Interview

Aufzustehen
 ist der erste Schritt

(c) Sabine Rübensaat
30 Jahre Mauerfall
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Noch zu DDR-Zeiten gründete sich im thüringischen Großkundorf eine Bürgerinitiative. Wir sprachen mit Lutz Hemmann über gefährliche Abfälle, die Sensibilisierung für ein heikles Thema und den aufrechten Gang. 

Vor genau 30 Jahren erschien in der Bauernzeitung ein Gespräch mit dem Thüringer Handwerker Lutz Hemmann. Dieser hatte noch vor dem Fall der Mauer Kontakt zur Bürgerbewegung Neues Forum aufgenommen und mit Gleichgesinnten eine Bürgerinitiative gegründet. Deren Ziel war es vor allem, die am Rande von Großkundorf im Kreis Greiz gelegene Mülldeponie ordnungsgemäß zu sichern. Im Anschluss sollten Fachleute gründlich die Halde untersuchen, auf der radioaktives Material gelagert wurde. Seinerzeit hatte die SDAG (Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft) Wismut in der Region großflächig Uranerz abgebaut, Ausgangspunkt für die Produktion von Nuklearwaffen sowie den Betrieb von Atomreaktoren. 

Lutz Hemmann Bauernzeitung
Nach 30 Jahren sprachen wir erneut mit Lutz Hemmann (c) Sabine Rübensaat

Zutiefst besorgt wegen möglicher Gefahren, die von der Deponie mit den Rückständen der Erzwäsche für Mensch und Umwelt ausgingen, forderte die Bürgerinitiative, dieses heikle Thema nicht weiter zu verharmlosen. „Brav abwarten? Nicht mit uns!“ lautete die Überschrift über dem Beitrag. Kurz nach Veröffentlichung ging in der Chefredaktion der Bauernzeitung ein Schreiben des damaligen stellvertretenden Ministers für Umweltschutz und Wasserwirtschaft der DDR ein, der mit scharfen Worten den Beitrag kritisierte. Er monierte vor allem, dass der Redakteur vorher nicht die „staatlichen Stellen“ informiert hatte. Zweifellos eine Unterlassungssünde, die jedoch bewusst begangen wurde. Denn sonst wäre nach unseren damaligen Erfahrungen der Beitrag gar nicht erschienen.

Welche Reaktionen haben Sie damals auf unser Gespräch erfahren?

Durchweg positive. Zu dieser Zeit wenige Wochen nach dem Fall der Mauer war doch längst klar, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Die sogenannte Staatsmacht verfiel immer mehr in Ohnmacht. Doch die Situation war trotz aller Euphorie nicht einfach. Keiner wusste, was kommt. Und ich hatte ja auch schon so meine Erfahrungen …

Erzählen Sie!

Im Februar 1989 bekam ich unerwartet „hohen Besuch“. Der saß unangemeldet bei uns auf der Couch. Der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung Greiz  gehörte ebenso dazu wie ein auffällig unauffälliger Mensch, der sich nicht einmal vorgestellt hatte. Man forderte mich ohne Umschweife auf, sofort die Finger vom Thema Großkundorfer Deponie zu lassen. Sonst könnte es zu meinem Schaden sein, hieß es. Das sei aber keine Drohung, sondern nur ein Hinweis darauf, was passieren könnte!

Kriegt man es da nicht mit der Angst zu tun?

Dieser Beitrag stieß damals auf ministerielles Missfallen (c) Sabine Rübensaat

Natürlich, vor allem wenn man an die eigene Tochter denkt, die zu dieser Zeit gerade mal fünf Jahre alt war. Doch mir und meinen Mitstreitern ging es ja gerade um die Gesundheit und die Zukunft unserer Kinder. Die können doch nur in einer möglichst intakten Umwelt gedeihen, zu der auch der aufrechte Gang gehört, wie ich finde. Ich habe dann jedoch bewusst meine Tochter von unseren Aktionen ferngehalten, um sie nicht zu gefährden. 

Haben Sie und Ihre Mitstreiter sich damals als klassische Opposition verstanden?

Jein. Wir nahmen uns schon das Recht heraus, nicht mit allem einverstanden zu sein, was „von oben“ kam. Dazu gehörte eben auch, Fragen zu stellen und Zweifel anzumelden, aber nicht als abseits Stehende, sondern als Mitstreiter. Wir wollten die DDR nicht abschaffen, sondern sie verändern! Was konkret bedeutete, im Gemeindeparlament mitzuarbeiten, was ich viele Jahre dann ja auch getan habe, von meinem Einsatz bei der Feuerwehr ganz abgesehen.

Wie ging es Anfang 1990 mit der Bürgerinitiative weiter? 

Unsere größten „Bauchschmerzen“ hatten wir damit, dass nach den Plänen der Behörden die Lagerstätte mit einer besonderen Schutzschicht aus Haus- und Industrieabfällen abgedeckt werden sollte. Das muss man sich mal vorstellen: Zu dem, was da schon vor sich hin tickte, sollte noch einmal ein undefinierbarer Cocktail aus Unrat kommen. Einfach unverantwortlich! Wir haben deshalb alles unternommen, um dieses Vorhaben zu unterbinden. Schon 1987 und 1988 hatten wir Unterschriften gesammelt und festgestellt, dass wir die große Mehrheit der Einwohner auf unserer Seite hatten. Nun ging es uns darum, mehr Informationen über die Art und Weise der Lagerung zu bekommen. Wir organisierten eine Tagung, auf der namhafte Professoren über die Niedrigstrahlung in Gebieten mit Uranerzbergbau referierten. Sie bestätigten unsere Befürchtungen. Der Tagungssaal in Berga war an beiden Tagen proppenvoll. Wichtig war uns aber auch der Einsatz im nur wenige Kilometer entfernten Seelingstädt. Dort gab es damals die „Erzwäsche“, wie das von der Wismut betriebene Unternehmen hieß. In den ersten Monaten 1990 hatten wir Zugang zum dortigen Archiv. 

 Blick auf die Deponie
Blick vom Hemmanns Grundstück auf die Lagerstätte (c) Sabine Rübensaat

Wir durften zwar nichts kopieren, mal abgesehen davon, dass das zu der Zeit schon rein technisch schwer genug war. Immerhin konnten wir eine Reihe Fotos und uns ein Bild davon machen, wie mit den Rückständen der Erzwäsche umgegangen wurde. Das war schon beklemmend genug. Aber der schwerste Schlag für unsere Bürgerinitiative erfolgte dann nach einem halben Jahr, als die zuständige Bundesbehörde die Einrichtung übernahm und uns den Zugang untersagte. Da haben wir die Welt nicht mehr verstanden!

Ihre Mitstreiter kamen, wie Sie uns seinerzeit berichteten, aus den verschiedensten Berufsgruppen. 

Wir waren damals mehr als ein Dutzend Frauen und Männer, zumeist in meinem Alter. Es waren Handwerker, Arbeiter und Lehrer darunter, ebenso eine Krippenerzieherin und ein Landwirt. Natürlich hatten wir nicht das Fachwissen für die komplizierte Materie, was uns ja immer wieder vorgeworfen wurde. Aber darum ging es ja nicht. Wir wollten einfach über die Öffentlichkeit eine Sensibilisierung für das Thema erreichen und dann den Einsatz von kompetenten Leuten, die übernehmen. Dass die dann wiederum so konspirativ vorgingen und unsere Mitarbeit ablehnten, war mehr als ernüchternd. 

Es gab dann aber doch ein Gesamtsanierungskonzept …

Ja, aber unter den nun bundesdeutschen Bedingungen wurde die Umsetzung zu einem bürokratischen Monster mit unzähligen Genehmigungsverfahren. Wir haben anfangs versucht, die zu begleiten, doch das war unmöglich. Wir sind den Dingen nur noch hinterhergelaufen, ohne wirklich Einsicht nehmen geschweige denn etwas bewirken zu können. Dazu muss man wissen, dass wir das alles ehrenamtlich, also in unserer Freizeit, gemacht haben. Das forderte Kraft und Zeit. Zu DDR-Zeiten wäre das nicht so problematisch gewesen. Doch jetzt ging es ja auch darum, seinen Job zu behalten, um die Familie ernähren zu können. Das hat an uns allen genagt und schließlich dazu geführt, dass wir Ende 1996 die Bürgerinitiative auflösten. 

Vermutlich kam es auch zu Anfeindungen …

Logisch. Wer damals bei der Wismut in Lohn und Brot stand, sah uns als große Bedrohung. Es gab eine ganze Reihe von Gesprächen, in denen wir klarzumachen versuchten, dass nicht wir es sind, die Arbeitsplätze im Bergbau infrage stellen. Die Erzvorkommen wären ohnehin in spätestens zehn Jahren erschöpft gewesen. Dafür bot die von uns geforderte gründliche Sanierung weiterhin reichlich Arbeit. Noch heute sind in diesem Bereich in unserer Region rund viertausend Leute beschäftigt. Das wollte damals aber keiner hören.

Hat sich Ihr Einsatz dennoch gelohnt?

Unbedingt. 1991 wurde endlich festgelegt, auf der Deponie weder Haus- noch Industriemüll zu lagern. Es gab inzwischen umfangreiche Sanierungsarbeiten, Becken wurden abgepumpt und abgedichtet, Erdmassen wurden aufgeschichtet und Dränagen angelegt. Doch wir können nicht bewerten, wie nachhaltig das alles war. Denn es lief ab wie eine geheime Verschlusssache. Immerhin ist die Lagerstätte jetzt ordentlich gesichert. Vorbei die Zeiten, als das Tor offen stand. Und selbst wenn es mal zugeschlossen war, konnte dennoch jeder reinmarschieren. Denn es war bekannt, dass der Schlüssel auf dem Baum hing …

In den Wendewochen habe ich mal in Berlin einen denkwürdigen Spruch gelesen: „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war eine schöne Zeit …“

L.H. Nahaufnahme
Lebt weiterhin in Großkundorf: Wolfgang Hemmann (c) Sabine Rübensaat

Nun ja, die wird wohl jeder auf seine Weise erlebt haben und entsprechend reflektieren. Fest steht, dass zu dieser Zeit die alte Ordnung, die uns reichlich geärgert hatte, nicht mehr existierte. 

Die neue war noch nicht in Kraft. Doch es gab schon so eine Vermutung, dass sich nicht alles so verändern würde wie erhofft. Zu DDR-Zeiten konnten wir über bestimmte Dinge nicht reden, weil die Gefahr bestand, weggesperrt zu werden. Heute können wir über alles reden. Aber es hört kaum einer noch hin!

Wie ging es bei Ihnen beruflich weiter?

Nach einem Autounfall, der einen Bänderriss zur Folge hatte, konnte ich nicht mehr als Handwerker arbeiten. Ich habe eine Umschulung zum Industriekaufmann gemacht, dann im Großhandel in Sachen Heizung und Sanitär gearbeitet. Seit 2002 bin ich voll erwerbsunfähig und nach mehreren Bandscheibenvorfällen auf Medikamente angewiesen. Ich helfe aber noch stundenweise in der Firma meiner Frau aus. Ich kann doch nicht einfach herum­sitzen.

Wenn Sie die Chance hätten, die Zeit zurückzudrehen …

… würde ich wieder tun, was ich getan habe. Dass die Mauer vor 30 Jahren fiel, sehe ich als großen Glücksfall an. Sicherlich hat man in der Zeit so manche Illusion verloren.

Lutz Hemmann Redakteur
Lutz Hemman im Gespräch mit Bauernzeitung-Autor Wolfgang Herklotz (c) Sabine Rübensaat

Welche zum Beispiel?

Dass Parteien, welcher Farbe auch immer, ernsthaft zu ihren Wahlversprechen stehen. Es geht doch nur darum, wiedergewählt zu werden. Ich habe damals Joschka Fischer, zu der Zeit hessischer Umweltminister, auf einer Veranstaltung bei uns erlebt. Der versprach uns alle Hilfe, die wir brauchten. Doch das war nur Rhetorik. Ich bin mir sicher, dass er uns schon bei der Rückfahrt hinter dem Hermsdorfer Kreuz vergessen hat. Aber damit will ich nicht unsere Demokratie infrage stellen. Die ist ein kostbares Geschenk und muss behütet werden. 

Sie wohnen nach wie vor in Großkundorf. Wie lebt es sich hier?

Wir sind hier zu Hause, und so fühlen wir uns auch. Übrigens hatten wir wenige Wochen vor der Wende eine Einladung zu einer Familienfeier in Baden-Württemberg, die uns überraschenderweise auch genehmigt wurde. Vielleicht ging man ja davon aus, dass der Störenfried Hemmann im Westen bleiben würde. Das Angebot gab es durchaus, aber es kam schon wegen unserer Tochter, die in Großkundorf auf uns wartete, nicht infrage. Bedauerlich finde ich nur, dass  im Laufe der Jahre der Gemeinschaftssinn im Dorf abhandengekommen ist. Es geht fast nur noch ums Geld, Missgunst macht sich breit. Das ist keine gute Entwicklung!

Was halten Sie von der Bewegung „Fridays for Future“?

Ich ziehe den Hut vor Greta Thunberg. Die ist so klein und doch so groß, denn sie hat recht. Wenn wir nicht jetzt etwas für den Klimaschutz tun, kann es in ein paar Jahren schon zu spät sein! Aufzustehen ist immer der erste Schritt, um etwas in Gang zu bringen!

Die Fragen stellte: Wolfgang Herklotz


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