Nationalpark Unteres Odertal: Tödliche Idylle

(c) Heike Mildner
Reportage
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Durch den ASP-Zaun ist der Nationalpark Unteres Odertal weiße Zone und bei Hochwasser eine Falle für alle größeren Säugetiere geworden. Wir haben uns die Flutungspolder A und B genauer angesehen. Eine Momentaufnahme.

Von Heike Mildner

Kalter Wind fegt am 26. Tag des neuen Jahres über die eingezäunte Badewanne. Wenn Stärke und Richtung stimmen, verwandelt er den Wildzaun in eine Windharfe, die Drähte des Knotengeflechts schwingen sich auf eine Frequenz ein und erzeugen ein beunruhigendes Pfeifen. Kommt der Wind von Norden, drückt er das Oderwasser in die Polder, die Badewanne füllt sich. Sie füllt sich auch, wenn sich Eisschollen auf der Oder stauen oder im Riesengebirge der Schnee schmilzt.

Nationalpark Unteres Odertal in weiße Zone verwandelt

Seit Wildschweine, die über die Oder schwimmen, potenzielle Überträger der Afrikanischen Schweinepest (ASP) sind, sollen sie am Grenzübertritt gehindert werden. Von Sachsen bis zur Ostsee schlängeln sich die Wildzäune, der Bau konnte gar nicht schnell genug gehen. Und da der erste Zaun nicht reichte, wurde ein zweiter gezogen. Dazwischen die weiße Zone, aus der Wildschweine komplett verschwinden sollen, sei es durch Jagd, sei es über das Töten, nachdem die Tiere in Fallen gelockt wurden.

Das Landratsamt Uckermark, zuständig für den Zaunbau im Landkreis, entschied, dass sich der Nationalpark Unteres Odertal in eine solche weiße Zone verwandelt. Der erstgebaute Zaun schlug den Park noch mental dem ASP-verseuchten Polen zu. Er verläuft an der Innenseite des Winterdeichs, der ganzjährig die Ortschaften schützt. Mit dem zweiten Zaun entlang der Polderseite des Sommerdeichs zingelte man die Tiere im Park ein. Seit Sommer 2021 haben alle Wände der Badewanne einen Zaun auf der Wasserseite, abgesehen von zwei Lücken, an denen wir bald vorbeikommen werden.

mehr als 107.000 Unterschriften für zaunversetzung

Wir begleiten Dr. Michael Tautenhahn, den stellvertretenden Leiter des Nationalparks, auf einer Tour um die Polder A und B: Pressearbeit kombiniert mit Dokumentation. Denn seit Anfang des Jahres wieder Rehe sterben, weil sie die Zäune auf der Flucht vor dem ansteigenden Wasser landeinwärts nicht überwinden können, steht der Zaunverlauf in der Kritik, werden Maßnahmen ergriffen und wieder infrage gestellt, fordern mehr als 107.000 Unterschriften im Internet von Landrätin Karina Dörk und der zuständigen Verbraucherschutzministerin, Ursula Nonnemacher, den Zaun zu versetzen.

Durchlässe für Rehe

Vom Nationalparkzentrum in Criewen geht es zum Winterdeich: Ein Panoramablick mit Zaun, dahinter nasse Wiesen, Buschwerk, Bäume, bis zu den Knien im Wasser. Aus der Ferne sind Singschwäne zu hören, ist irgendwo am Horizont die zweite Zaunlinie zu erahnen. Eine Gruppe Spaziergänger kommt den Deich entlang. Nein, gesehen hätten sie die Singschwäne leider nicht. Führungen finden wegen Corona nicht statt.

Michael Tautenhahn fotografiert ein geschlossenes Zauntor. Eigentlich sollten die Tore tagsüber offen sein und nur nachts geschlossen werden, damit Tiere, die tagsüber aktiver sind als Wildschweine, sie passieren können. Doch die Tore auf der Winterdeichseite sind zu. Dafür ist ein paar hundert Meter weiter einer der Rehdurchlässe zu entdecken, die der Landkreis in kürzester Zeit einbauen ließ: ein schmaler Stahlrahmen, durch den ein Reh passt, ein Wildschwein nicht.

Soweit die Theorie. Ob sie stimmt, soll über Wildkameras evaluiert werden. „Lange können die noch nicht hängen“, konstatiert Tautenhahn und macht ein Foto von der Kamera, die an einem Pfosten angebracht ist, sodass sie den Rehdurchlass und auch den Zaun, der an dieser Stelle von 120 auf 80 cm gekürzt wurde, im Fokus hat. Denn neben Rehen scheiterte auch schon mindestens ein Rotkalb am Zaun, das seiner Mutter nicht folgen konnte.

Es sei immer ähnlich, so Tautenhahn, die Tiere versuchen über den Zaun zu springen, schaffen es nicht und geben entkräftet auf, sterben oder müssen von Jägern erlöst werden. Einen der Rehkadaver entdecken wir an der Polderseite des Sommerdeichs. Der beißende Geruch spiegelt die lange Liegezeit. An anderer Stelle hängt Gras am Zaun wie Seegras in einem Fischernetz und markiert den Wasserhöchststand der letzten Wochen. „Wir hatten Anfang des Jahres ein mittleres Hochwasser“, sagt Tautenhahn, und man kann sich gut vorstellen, wie Wildschweine den Zaun, der wenig weiter nur noch 20 cm aus dem Wasser ragt, bei einem stärkeren Hochwasser einfach landeinwärts überschwimmen.

Durchlässe für Schweine

Auf Höhe der beiden „Einlassbauwerken“ am Sommerdeich wird deutlich, dass der ASP-Zaun zudem zwei große Lücken hat und seinen Zweck, Wildschweine wirksam vom Grenzübertritt abzuhhalten, gar nicht erfüllen kann: Nichts hindert Schweine an den Einlassbauwerken, die vom 15. November bis 15. April geöffnet sind, mit der Strömung in die Polder zu gelangen. Der blaue Elektrozaun, der einmal versucht haben mag, diese Lücke zu schließen, liegt als Plastikmüll im Wasser. Im Schilfgürtel entdeckt Tautenhahn einen Wildwechsel. Eine Wildkamera gibt es hier nicht. Auch nicht an den offenen Toren am Sommerdeich.

Hinter einem Caddlegrid auf dem Sommerdeich steigt Doreen Stecker vom Rad. Sie ist in der Facebookgruppe „Uckermark ASP Zaun Katastrophe“ vernetzt, aber auch analog unterwegs: Auf 60 km hat sie heute den ASP-Zaun auf Suche nach hilfsbedürftigem Wild abgefahren. Neben der Tierschützerin begegnen wir einem Naturfotografen, einem Ornithologen und mehrfach einem halben Dutzend Landkreismitarbeiter, die weitere Kameras an den Rehdurchlässen installieren. Tautenhahn kennt fast jeden, dreht die Autofensterscheibe herunter und hält sich auf dem Laufenden. Ganz frisch: An einen der Durchlässe hat jemand Kartoffelschalen und altes Brot geschüttet. Sollen so die Rehe den Durchlass finden? Kommen werden wohl eher die Wildschweine. Gut gemeint ist auch hier das Gegenteil von gut, ein gutes Ende scheint nicht in Sicht.

Aber vielleicht schreibt sich die Lage der Durchlässe irgendwann ins kollektive Rehgedächtnis ein. Vielleicht finden keine neuen Wildschweine den Weg von Polen in die Polder. Vielleicht gibt es ein Jahr lang keine ASP-Fallwildfunde mehr, und Deutschland gilt wieder als ASP-frei. Vielleicht werden die Zäune dann wieder abgebaut. Vielleicht gibt es dann besonders anpassungsfähige und intelligente Wildtiere im Nationalpark. Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben*. Und vielleicht werden die Wildkameras an den Rehdurchlässen ausnahmsweise mal nicht gestohlen.


* bei Bertolt Brecht geborgt

Kurz vor Redaktionsschluss
erreichte uns vom Verbraucherschutzministerium noch folgende Antwort auf unsere Nachfrage: Die Trassenführung des ASP-Zauns soll im Nationalpark Unteres Odertal nun doch so angepasst werden, dass sich Wildtiere bei Hochwasser zurückziehen können. Darüber gebe es grundsätzlich eine Übereinstimmung zwischen Land und Landkreis.

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