Pflanzenschutz: Brüssel stellt Totalverbot zur Diskussion

Allein der durchgängige Einsatz moderner Applikationstechnik könnte den Einsatz von chemischen Mitteln für den Pflanzenschutz um ein Viertel reduzieren. (c) Sabine Rübensaat
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Der Entwurf für die künftige EU-Verordnung zum chemischen Pflanzenschutz geht weit über das hinaus, was die Branche in den letzten Wochen bereits befürchtete. Das zumindest lesen Fachleute in den Ländern heraus.

Anders als es anfangs schien, ist die seit Wochen kursierende Sorge, die EU-Kommission plane ein Spritzverbot in allen Schutzgebieten, kein Hirngespinst. Zunächst hieß es noch, mit den im Entwurf für die künftige Pflanzenschutz-Verordnung erwähnten „empfindlichen Gebieten“ seien „lediglich“ EU-weite Schutzkategorien gemeint. Das sind Natura-2000-Gebiete, nicht aber nationale Naturschutz- oder gar Landschaftsschutzgebiete. Nachdem sich die Fachleute in den Bundesländern detaillierter mit dem Vorschlagstext befasst haben, kann davon nun keine Rede mehr sein. Im Gegenteil.

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Verbot für Pflanzenschutz in allen Schutzgebieten

Ende Juni hatte Brüssel den Entwurf die neue Verordnung zum Pflanzenschutz vorgelegt. Sie ist Teil ihres Naturschutzpaketes. Damit will die EU-Kommission das in der Farm-to-fork-Strategie für den Green Deal festgelegte Ziel erreichen, bis 2030 den Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel zu halbieren. Zurzeit arbeiten die zuständigen Behörden in den Ländern mit Hochdruck daran, sich einen Überblick über den Grad der Betroffenheit landwirtschaftlicher Flächen zu verschaffen.

Nach Einschätzung mehrerer beteiligter Fachleute gibt es im Verordnungsentwurf der EU-Kommission eine Reihe von widersprüchlichen oder ungenauen Formulierungen, die noch Spielraum für Interpretationen nach oben lassen. Dazu werden vermutlich noch EU-Juristen befragt werden müssen. Namentlich als Verbotszonen genannt sind aber bereits u. a.

  • Natura-2000-Gebiete,
  • Schutzgebiete von Bestäuberarten auf der Roten Liste,
  • Wasserschutzgebiete nach EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL, Anhang IV) sowie
  • „alle sonstigen nationalen, regionalen oder lokalen Schutzgebiete, die von den Mitgliedstaaten an das Verzeichnis der nationalen Schutzgebiete (CDDA) gemeldet wurden“.

Welche das sind, weiß in Deutschland das Bundesamt für Naturschutz (BfN), die das CDDA betreut:

Die roten Flächen stellen die im Verordnungsentwurf genannten „empfindlichen“ Schutzgebiete in Thüringen dar. Gar nicht enthalten sind dabei die Grundwasserkörper, aus denen Trinkwasser entnommen wird.
(c) Thüringer Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz (TLUBN)
  • Naturschutzgebiete,
  • Nationalparke,
  • Nationale Naturmonumente und
  • Landschaftsschutzgebiete.

Was dies am Beispiel Thüringens bedeutet, zeigt die Karte. Auf ihr sind alle Schutzgebiete im Freistaat eingezeichnet. Nur so ergibt sich ein reales Bild, denn zahlreiche Schutzgebiete überlagern sich. Nur die weißen Flächen blieben künftig noch für den chemischen Pflanzenschutz offen – theoretisch, wären da nicht noch weitere Stolperstellen im Verordnungsentwurf.

Das Thüringer Landwirtschaftsministerium (TMIL) verweist auf Ableitungen, die sich erst aus dem „Kleingedruckten“, also dem Querverweis auf andere EU-Verordnungen oder -Richtlinien ergeben. An erster Stelle steht dabei der erwähnte WRRL-Anhang IV. Der definiert „Gebiete für die Entnahme von Trinkwasser (Grundwasserkörper) sowie nährstoffsensible Gebiete“. Die finden sich – zumindest in Deutschland – fast unter der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Damit würde das Anwendungsverbot also auch völlig unabhängig von FFH oder Naturschutz fast flächendeckend gelten.

Doch selbst damit nicht genug: „Empfindliche Gebiete“ sind, so liest das Erfurter TMIL aus dem Entwurf heraus, auch jene gefährdeten Gebiete, die nach den Vorgaben der Kommunalabwasserrichtlinie ausgewiesen worden sind. Die Bundesrepublik weist sie nicht einzeln aus, sondern wendet die Richtlinie flächendeckend an. Somit wird, so versteht man es in Erfurt, Deutschland flächendeckend als nährstoffsensibles – und damit als „empfindliches Gebiet“ im Sinne des neuen Verordnungsentwurfes – betrachtet. Im Klartext: Anwendungsverbot für chemische Pflanzenschutzmittel von Kap Arkona bis zur Zugspitze.

Dass dies tatsächlich beabsichtigt ist, hält man in Erfurt zwar für unwahrscheinlich. Denn damit widerspräche diese Maßnahme dem eigentlichen Ziel der ganzen Verordnung. Das lautet nun einmal: Reduktion des Einsatzes von chemischen Pflanzenschutzmitteln, nicht seine völlige Einstellung. Doch so steht es erst einmal im Artikel 18 des Verordnungsentwurfs. Dass dies kein Versehen ist, sollte man bei einem lang vorbereiteten Verordnungsentwurf der EU-Kommission voraussetzen dürfen.

Bundesministerien berufen sich auf „frühe Phase“

Fragen danach, welche Folgen hierzulande für die landwirtschaftliche Produktion mit der Verordnung für den Pflanzenschutz zu erwarten wären, beantworten Bundeslandwirtschafts- und Bundesumweltministerium ausweichend. Beide Häuser begrüßen die Reduktionsziele der Kommission und verweisen darauf, dass die Ampelkoalition den Green Deal und die Farm-to-fork-Strategie unterstützt. Auf Einzelheiten gehen sie jedoch nicht ein. „Die Daten dazu werden zurzeit noch erstellt“, begründete das eine BMEL-Sprecherin. In den nächsten Monaten würden die einzelnen Bestimmungen des Vorschlags einschließlich der Berechnungsmethoden für die nationalen Reduktionsziele in den Ratsgremien und im EU-Parlament erörtert, bevor sie verbindlich werden könnten. Anders als die bisher geltende Pflanzenschutz-Richtlinie der EU wäre eine Verordnung mit dem Tag des Inkrafttretens rechtlich bindend für die Mitgliedstaaten. Sie müsste nicht erst in nationales Recht umgesetzt werden.

Staatssekretärin Silvia Bender (c) BMEL/Kugler

Staatssekretärin Silvia Bender sagte am Montag (15.8.) bei einer LsV-Protestdemo in Bonn, das BMEL wolle eine „ausgeglichene und abgewogene Position“ erarbeiten. Dem Ministerium sei es „absolut wichtig“, dass die Landwirte zukünftig bessere Einkommen erwirtschafteten und natürlich zur Ernährungssicherheit beitrügen, betonte die Grünen-Politikerin. Auch Bender wies darauf hin, dass sich die Verordnungsvorschläge der Kommission noch ganz am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens befänden. Wie die nationalen Reduk­tionsziele errechnet werden, ist laut Bender eine wichtige Frage. „Hier sind in Deutschland in den letzten Jahren schon einige Einsparungen erbracht worden, und die müssen auch Eingang finden“, betonte sie. Die Vorschläge der Kommission zu den „empfindlichen Gebieten“ gehen Bender „definitiv zu weit“. Nach Ansicht der Staatssekretärin sollten Landschaftsschutzgebiete darin nicht aufgenommen werden. Auf die Grundwasserkörper, die deutlich weiter gefasst sind als Landschaftsschutzgebiete, ging sie in Bonn nicht ein.

„Verheerendes Signal an die Branche“

Dr. Klaus Wagner, Präsident des Thüringer Bauernverbandes (c) TBV

Nicht nur mit Blick auf offenkundige Widersprüche im Text spricht Thüringens Bauernpräsident, Dr. Klaus Wagner, von einem „unausgegorenen Verordnungsentwurf“. In der gegenwärtig ohnehin äußerst schwierigen Situa­tion der Landwirtschaft noch mehr draufzusatteln, hält er für ein „verheerendes Signal an die Landwirtschaft und ihre vor- und nachgelagerten Bereiche im Hinblick auf ihre Zukunftsfähigkeit“. Der Vorschlag aus Brüssel führe dazu, die gesamte Branche weiter zu verunsichern, statt zur dringend nötigen Konsolidierung beizutragen.

Für Wagner bietet die EU-Kommission kein einziges tragfähiges Argument an, das großflächige Totalverbote des Pflanzenschutzes rechtfertigen würde. „Der Verordnungsentwurf basiert auf Vermutungen, denn es gibt keine wissenschaftlichen Beweise, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu einer Verschlechterung der Umwelt führt beziehungsweise ein Verzicht darauf den Rückgang der Artenvielfalt beenden würde“, sagt er der Bauernzeitung. Daher benötige man in erster Linie mehr Forschung in dem Bereich und, damit verbunden, den Wissenstransfer in die Landwirtschaft. Der TBV-Präsident forderte außerdem, die Potenziale der Digitalisierung zur zielgenauen Anwendung und damit zur Reduktion des Wirkstoffeinsatzes ebenso zu nutzen wie die rasche Zulassung neuer, effizienter Wirkstoffe und die Züchtung robuster Sorten.

Verbot im Pflanzenschutz träfe auch Ökobauern

Wagner nennt es einen „grundsätzlich falschen Ansatz der EU-Kommission, die Reduzierung beim Pflanzenschutz über planwirtschaftliche Ansätze erreichen zu wollen“. In Thüringen wäre ein großer Teil der von einem Totalverbot betroffenen Betriebe in seiner Existenz gefährdet, da der wirtschaftliche Nachteil nicht auszugleichen sei. Damit stehe die flächendeckende Landbewirtschaftung infrage. „Das scheint das Primärziel dieses Vorschlages zu sein“, mutmaßt Wagner. „Aufgrund des Ausmaßes betroffener Fläche droht uns die Landwirtschaftswende genau dahin zu führen, wo uns die Energiewende hingeführt hat: in die Abhängigkeit von Importen.“ Gerade im Hinblick auf die klimatischen Veränderungen sollte Politik alles unterlassen, was Qualität und Quantität der Lebensmittelerzeugung hierzulande einschränke, fordert der TBV-Präsident.

Von den Einsatzverboten wären übrigens nicht nur konventionelle Landwirte betroffen. Anders als in anderen Bereichen sind keine Sonderregelungen für Biobetriebe vorgesehen. Somit könnten auch Ökobauern – besonders die mit Gemüse, Obst oder Wein im Anbau – keine chemisch-sythetischen Mittel mehr anwenden. Die Bundesländer stehen auch dazu bereits auf Arbeitsebene im Austausch. Wann es zu Gesprächen mit dem Bund kommt, ist derzeit noch nicht absehbar.

Die EU-Kommission hat für Meinungen zum Verordnungsentwurf ein Onlineportal eingerichtet. Dort können Interessierte bis zum 19. September ihre Hinweise und Anmerkungen einbringen. red


Kommentiert: „Voller Eifer gegen die Wand“

Ralf Stephan
(c) Sabine Rübensaat

Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zum Entwurf für eine EU-Verordnung zum Pflanzenschutz hat die Redaktion der Bauernzeitung selbst überrascht. Chefredakteur Ralf Stephan kommentiert das in der aktuellen Ausgabe (33/2022) so:

Nach der Recherche rieb man sich in der Redaktion ungläubig die Augen. Vom gutmütigen ,Das kann keiner gewollt haben!‘ bis zum zynischen ,Na dann, gute Nacht!‘ reichten die Kommentare, als die Antworten auf unsere in alle Richtungen ausgesendeten Fragen eingetrudelt waren. Doch es gibt keinen Zweifel: Was die EU-Kommission in ihrem Entwurf für die neue Pflanzenschutzverordnung vorschlägt, läuft im Moment auf ein Totalverbot von chemischem Pflanzenschutz hinaus. Das seit Wochen in den zuständigen Bundesministerien geübte beredte Schweigen dazu hat also seinen tieferen Grund.

Das letzte Wort wird das selbstverständlich nicht sein. Doch jeder weiß, welchen unberechenbaren Verlauf demokratische Prozesse nehmen können. Jede Unzumutbarkeit herauszuverhandeln, wird ein Kraftakt mit ungewissem Ausgang. Davon abgesehen: In der wichtigen Frage, wie sich Arten- und Umweltschutz, Ernährungssicherheit wie auch Wirtschaftlichkeit im einzelnen Betrieb vereinbaren lassen, sollte man auf den offenen, konstruktiven Streit um beste Lösungen setzen. Nun aber liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der vielen einfach nur Angst macht. Mit seiner Maximalposition hat Brüssel die Atmosphäre für die anstehenden Gespräche nachhaltigst vergiftet.

Taktisch scheint die Rechnung jedoch bereits aufzugehen. BMEL-Staatssekretärin Bender beruhigte in Bonn protestierende Bauern mit der Ankündigung, Landschaftsschutzgebiete aus dem Anwendungsverbot ausnehmen zu wollen. Unkenntnis? Ein Ablenkungsmanöver? Denn das wäre das absolute Minimum und sinnlos, solange der eigentliche Tiefschlag – das Verbot auf Grundwasserkörpern zur Trinkwassergewinnung – nicht verhindert wird. Mit so windelweichen Positionen wird man in Brüssel nichts bewirken.

Die Bereitschaft der gesamten Branche, grüner und nachhaltiger zu produzieren, war nie größer als heute. Doch die EU-Kommission versteht dies nicht zu nutzen. Stattdessen fährt sie ihren Green Deal voller missionarischem Eifer selbst gegen die Wand.“ red