Die fünf spannendsten Agrifood Start-ups der Grünen Woche 2023
Wie Gülle zu Gold wird, wann ein Ei dem anderen gleicht, wie Meeresalgen im Verein mit Ackerbohnen Thunfisch täuschend ähnlich nachahmen … die Startup-Days auf der Grünen Woche gaben Antworten.
Von Jutta Heise
Von 30 Bewerbungen um den ausgelobten Preis der 5. Startup-Days der Grünen Woche 2023 schafften es zehn in die Endrunde, durften in Zwei-Minuten-Pitches ihre innovativen Geschäftsideen einer Jury präsentieren und waren auch vor dem Contest zu Auskünften bereit. Wir hatten die Qual der Wahl unter den Preisverdächtigen und entschieden uns letztlich für die nachfolgenden fünf.
Seedalive: Schnelle Keimfähigkeitskontrolle
Der Gesamtsieger der diesjährigen Startup-Days der Grünen Woche heißt Seedalive (zu Deutsch: lebendiger Samen). Das Startup aus Osnabrück hat einen Keimfähigkeitsschnelltest entwickelt um die Keimfähigkeit von Saatgut, als auch die Triebkraft zu ermitteln. Ein Keimfähigkeitstest dauert normalerweise circa 14 Tage. Hierfür müssen möglichst passende und homogene Bedingungen herrschen. Dank des Schnelltests von Seedalive dauert dies nur noch 4 Stunden.
Mit Hilfe eines Farbstoffes und einem Gerät zur Auswertung der Daten können konkrete Aussagen über die Keimfähigkeit getroffen werden. Adressiert ist diese Technologie an ein breites Publikum. Vom industriellen Saatgutzüchter bis hin zum Landwirt, welcher sein eigenes Saatgut herstellen oder überprüfen möchte kann dieser Test angewendet werden.
Seedalive erhält ein Coaching im Wert von 1.000 Euro sowie ein Paket von Präsentationsmöglichkeiten auf der Grünen Woche 2024.
Unsere Top-Themen
• Baumschulengärtner Florian Wolf
• Samenernte mit Bürsten
• Technik für Gülle und Mist
• Märkte und Preise
NUNOS: Gülle zu Gold
NUNOS (ein verbaler Spontaneinfall, keine Abkürzung, kein Synonym) werben mit dem abgewandelten Rumpelstilzchen-Zitat für sich, indem sie versprechen, Gülle zu Gold machen zu können. Dafür nutzt NUNOS eine Technologie, die für das All gedacht ist und auf Biofiltern im Weltraumeinsatz basiert. An denen wird am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) bereits seit 2011 geforscht, um Urin der Astronauten und bordeigene Abfälle in Dünger zu verwandeln und damit z. B. ein Gewächshaus auf der Umlaufbahn zu betreiben.
Tim Paulke, Holger Sommerlad und Johannes Stock, Umweltingenieur, Elektroniker und Agrarbiologe, haben mit NUNOS die Technologie auf die Landwirtschaft heruntergebrochen. Ihr Angebot: Anlagen zur biologischen Aufbereitung von Gülle und Gärprodukten zu höherwertigem Düngemittel. Ein Technologietransfer aus der Raumfahrt in die Landwirtschaft. Vom Mars in die Mark, sozusagen.
Die vom Team entwickelte und Ende 2022 in Betrieb genommene Pilotanlage besteht, so die Entwickler, aus einem Reaktorraum und einem Tankvolumen. Der geschlossene Reaktionsraum befindet sich oberhalb des Tanks und beinhaltet Trägermaterialien, auf denen eine Vielzahl von Mikroorganismen siedeln kann. Diese werden kontinuierlich mit frischem Substrat aus dem Tankvolumen versorgt.
Sommerlad listet die Vorteile auf: schnell pflanzenverfügbarer Flüssigdünger, erhöhte Lagerfähigkeit ohne Nährstoffverluste, Einsparung von Mineraldünger. Das System verhindert, dass überschüssige Stickstoffmengen in Luft, Wasser, Boden gelangen. Das Verfahren läuft ohne den Einsatz von Chemikalien oder Gefahrstoffen ab.
Die einfache Prozessführung und ein geringer Energieverbrauch ermöglichen, die Anlage in bestehende landwirtschaftliche Betriebsstrukturen zu integrieren, so NUNOS. Ob der Landwirt die Anlage kaufen oder mieten kann, in diese Details ist man noch nicht vorgedrungen. Noch sind die Entwickler beim DLR angestellt, eine Marktstudie mit Landwirten verlief im Herbst 2022 erfolgreich. Für das erste Halbjahr 2023 ist eine Unternehmensgründung angepeilt.
VetVise: Beobachtung rund um die Uhr
Das Auge des Herrn mästet das Vieh, zitiert Norman Caspari von VetVise eine alte Bauernweisheit. Mit Blick auf heutige Bestandsgrößen in der Tierhaltung sei dies nicht mehr möglich. Jedoch bleibe die Tierbeobachtung ein wichtiger Schlüssel, um Tierwohl und Produktionseffizienz zugleich zu sichern. VetVise, ein 2020 mit Investitionen zweier Business-Angels gegründetes Team, bestehend aus einem Tierarzt, einem Softwareentwickler und einem Physiker, legt ein Machine Learning (KI) gestütztes Frühwarnsystem auf der Grundlage von 2D-Kamera-Daten vor, die 24/7 im Geflügel- oder Schweinestall erhoben werden.
Diese werden ausgewertet und dem Landwirt als Handlungsempfehlungen kommuniziert. Norman Caspari: „Damit ist eine vereinfachte und genauere Möglichkeit gegeben, die Tiere zu beobachten, und zugleich ein intelligentes System installiert, das das Verhalten der Tiere einschätzen kann.“ Überdies werden andere Sachverhalte, etwa Hinweise auf verändertes Stallklima, z. B. durch Lüftungsausfall, unerwünschte Temperaturschwankungen oder Defekte an der Futterlinie, weitergegeben. Benefit für den Landwirt: Er erhält so früh wie möglich ein Achtungszeichen auf ungewöhnliches Verhalten der Tiere, auf den Beginn von Krankheiten und kann somit schnell reagieren.
Durch rasche Prävention lässt sich beispielsweise ein breiter Medikamenteneinsatz vermeiden, so Svenia Paul von VetVise. Zugleich sei Tierwohl nachweisbar, ein Argument für den Verkauf an den Schlachthof oder LEH. „Insgesamt konnten wir in den betreffenden Betrieben eine Leistungssteigerung von durchschnittlich zwölf Prozent nachweisen, in weniger guten Unternehmen waren es sogar bis zu 20 Prozent – das ist eine Revolution“, sagt Caspari.
Bisher hat VetVise eine Million Tiere in Geflügel- und Schweineställen unter der Kameralinse gehabt, bis zum Herbst werden es vier Millionen sein. Man agiert in einer Wachstumsbranche, deshalb soll sich die Mitarbeiterzahl von derzeit 20 verdoppeln. Die Start-up-Days nutzte man deshalb, um sich nach Verstärkung umzusehen.
Artenglück: für Wildbiene und Co.
Artenglück aus Hannover bietet seit zweieinhalb Jahren „Naturschutz as a service“ an. Gründer sind Felix Schulze-Varnholt, Landwirt mit Bachelor-Abschluss, und Lara Boye, Marketingfachfrau. Ihr Ziel: Die regionale Artenvielfalt fördern. Zur Erinnerung: Allein 62 % der Wildbienen- und Insektenarten sind bedroht, 12 Mio. Vogelbrutpaare seit 1992 verschwunden.
„Biodiversität und Klimawandel lassen sich nur angehen, wenn alle mithelfen, egal ob Privatpersonen oder Unternehmen“, so Startup-Gründer Schulze-Varnholt. Artenglück agiert deutschlandweit, spricht Einzelpersonen oder Unternehmen an, die per Abo eine Patenschaft über Blühwiesen, Feldvogelfenster – etwa in großen Getreidefeldern – oder über Wiederaufforstungen von Mischwald übernehmen. 100 m2 Blühwiese beispielsweise kosten 77 Euro im Jahr, 60 m2 48 Euro.
Angelegt werden die Biotope von einem Netzwerk von Landwirten oder Lohnunternehmern. Bevorzugt werden Niederertragsstandorte, die nicht für die Produktion von Feldfrüchten geeignet sind. „Wir schauen vor Ort, wo was möglich ist, stellen auch mehrjähriges Saatgut für Blühwiesen, eine Mischung von Kultur- und Wildpflanzen, bereit.“
Die Bilanz 2022: 151.000 m2 Blühwiese, 10.000 m2 Feldvogelfenster. Der Effekt: Auf Beispielflächen konnte ein Plus von 300 % Falterarten auf Blühfeldern, von 50 % bei Laufkäfern und 200 % bei Vögeln festgestellt werden. Ebenfalls im Portfolio von Artenglück: Team-Events, beispielsweise mit Renaturierungsmaßnahmen, und Unterstützung bei CSR-Projekten.
Bettafish: Meeresalgen statt Thunfisch
Thunfisch ist die meistgehandelte Fischart weltweit. 2020 wurden insgesamt 4,9 Millionen Tonnen gefangen. Um weiterer drohender Überfischung der Bestände (43 % gelten bereits jetzt als über die Maßen ausgebeutet) etwas entgegenzusetzen, entwickelte Bettafish mit „Tu-Nah“ eine hundert Prozent pflanzenbasierte vegane Alternative. „Unser Ziel: Sie sollte genauso schmecken wie das Original und zugleich bezahlbar sein“, erklärt Thao Trinh, die das Produkt präsentiert.
Das in Berlin ansässige, seit 2021 auf dem Markt agierende Unternehmen mit 16 Mitarbeitern, das sich ausschließlich mit Marketing und Produktentwicklung befasst (die Produktion ist ausgelagert), fand die Lösung in einer Mischung von Meeresalgen, die für „Tu-Nah“ aus den Fjorden Norwegens und aus Irland kommen, wo sie im offenen Meer angebaut werden, sowie von Bioackerbohnen aus Nordfrankreich. „Meeresalgen sind in großen Mengen vorhanden, es gibt sie darüber hinaus in Tausenden Arten mit unterschiedlichen Geschmacksnoten, von Trüffel bis Zitrone“, erklärt Thao Trinh.
„Tu-Nah“-Varios etwa als Creme ohne Zusatz von Zucker, Konservierungsstoffen oder Methylzellulose sind bereits in 4.000 deutschen Märkten, aber auch in fünf weiteren europäischen Ländern sowie in den Filialen der L’Osteria-Restaurant-Kette erhältlich, dort etwa als Pizza-Belag, in Pasta-Sauce oder in Kürze als Füllung in Ravioli.
Derzeit arbeitet man – als letzten Schritt – an der Variation in der Büchse. „Danach nehmen wir uns andere Fischarten vor. Mengenmäßig sind wir nach oben skalierbar. 2022 haben wir durch den Absatz von „Tu-Nah“-Produkten 41 Tonnen Thunfisch sowie 41,3 Tonnen Beifang gerettet“, so die Bettafish-Mitarbeiterin.
Neggst: vegane Eins-zu-eins-Kopie
Mit einer veganen Alternative das Original möglichst eins zu eins umzusetzen, war auch das Ziel des 2021 gegründeten Unternehmens VEgg GmbH aus Berlin. Sie sollte dem Hühnerei weder im Nährstoffprofil noch in Struktur, Konsistenz und Geschmack nachstehen, darüber hinaus genauso vielseitig einsetzbar und haltbar sein. „Es war eine sehr komplexe Herausforderung“, sagt Elena Köster, die wesentlichen Anteil an der Entwicklung hat.
Heraus kam, durch das Fraunhofer Institut mitfinanziert, „Neggst“, geeignet zum Braten, Backen, Kochen (sogar Eischnee lässt sich aufschlagen), eine Kombination von pflanzlichem Protein aus Hülsenfrüchten, Gemüse sowie ungesättigten Fetten und Ballaststoffen, unter Beigabe von Vitaminen, frei von Gluten und Allergenen.
Der Einstieg in den Markt erfolgte mit einem 150-ml-Glas, das Berliner Gastronomen bereits gelistet haben. 2023 will man sich auch in anderen Marktsegmenten positionieren. Inzwischen hört man, ist es gelungen, auch eine biologisch abbaubare Schale zu entwickeln.
Neue innovative Märkte erkunden
Nach so viel Info ein paar Kosthäppchen. Die und die Grüne Woche – das gehört immer noch zusammen. Hier mal eins aus dem Poesiealbum eines Bundesfinanzministers. „Startups sind die Hefe im Teig unserer Wirtschaft“, allegorisierte Christian Lindner bei der Eröffnung. Sollte heißen: Sie sind ausgelagerte Forschungsabteilungen und entwickeln Geschäftsmodelle, Verfahren und Produkte, von denen die gesamte Gesellschaft profitiert.
Wir ergänzen: Sie treiben an mit ungewöhnlichen Ideen, wagen sich auf unbearbeitete Felder, mit viel Mut und oft wenig Geld. Nicht an Power nachzulassen, fest an sein Konstrukt zu glauben, nach dem bekannten Motto „Hinfallen, Krone richten, wieder aufstehen“ (und das vielleicht mehrfach), diese Bitte gab Lindner den Jungunternehmern und jenen, die es werden wollen, auf den Weg. Immerhin weiß der Mann ja, wovon er redet … Wobei er offen konzidierte, dass es hinsichtlich effektiver finanzieller Unterstützung seitens der Bundesregierung etwas mau aussieht.
Ja, Startups entstehen häufig unter großen Unsicherheiten, da die Geschäftsidee neuartig, das Modell nicht etabliert ist. Folglich sei die Kreditvergabe in ihrer klassischen Form begrenzt, konventionelle Finanzierungswege, etwa Darlehen großer Banken, sind ihnen oft verbaut. Lindner sicherte zu, Jungunternehmer mit nachhaltigen Projekten im Zukunftsfinanzierungskonzept der Bundesregierung, das ja noch nicht fertig ist, stärker zu berück sichtigen, sich für die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren einzusetzen.
Video: Kurzer Einblick in die Startup-Days 2023
Die dem Minister folgende Talkrunde trat mit dem Vorsatz an, ergründen zu wollen, warum es nur eins von zehn Startups schafft, länger als drei Jahre am Markt zu überleben. Marie Ammann, EIT Food, München, ein europäisches Konsortium mit Fokus auf Neustarter und Innovationen im Lebensmittelbereich; Christian Dieckmann, Nutrition Solutions, Beratungsunternehmen für die Food-Branche, und Dominik Ewald, German Agri-Food Society, ein Verbund von Startups und deren Förderern, stellten ihre Erfahrungen zum Thema in den Raum.
Hindernis Nummer eins: Etliche Produkte und Technologien fänden keine EU-Markt-Zulassung, das sei beispielsweise bei Zuckerersatzprodukten oder im Insektenbereich der Fall. Gerade im Novel-Food-Sektor gäbe es eine große Checkliste zu durchlaufen, bis es das Produkt ins Regal des Lebensmitteleinzelhandels schaffe. Oft dauere dies fünf Jahre. In dieser Zeit würden andere Länder auf dieses geistige Potenzial aufmerksam, man werde abgeworben und wandere etwa in die USA oder nach Singapur.
Auch bräuchten Startups am Food-Markt den ständigen Austausch untereinander, ein intensives Networking sowie Kontakte zur Agrarbranche, aber auch zu Politik, Medien und Investoren. Ob Scheitern nun „keine Option“ oder doch „Teil des Erfolgs“ ist, blieb allerdings auch in dieser Runde offen. Zusatzinfo unsererseits: In den USA stellen Pensionskassen und Stiftungen gut 60 Prozent des Wagniskapitals zur Verfügung. Das gehe in Deutschland nicht, so Christian Nagel, Mitgründer und Partner bei Earlybird, einem der ältesten Risikokapitalgeber Europas, das aktuell zwei Milliarden Euro Vermögen verwaltet, in einer Veröffentlichung.
So müssten Startups, die endkundenlastige Geschäftsmodelle praktizierten und so aufgrund von Lockdown und Homeoffice als Corona-Gewinner galten, nun ihre Margen abstürzen sehen. Was viele mit Entlassungen kompensierten. Start-ups in der Krise? Mitnichten! Was zu beweisen war. Das sah auch die Jury so und vergab 2023 aufgrund des hohen Niveaus der Einreichungen spontan gleich noch die Sonderpreise „Innovation“ an NUNOS und „Nachhaltigkeit“ an Bettafish.