Bevor die Praxis die überarbeiteten Empfehlungen anwenden kann, muss erst vieles neu berechnet werden. (c) Christian Mühlhausen, landpixel.de

Futter für Milchkühe: Wozu neue Regeln?

Über 20 Jahre lang galten die Empfehlungen für die Versorgung der Milchkühe, herausgegeben von der Gesellschaft für Ernährungsphysiologie. Nun wird die Bewertung von Futter grundlegend geändert – und geht einen Schritt zurück.

Das Gespräch führte Ralf Stephan

Nach etwas mehr als zwei Jahrzehnten legt der Ausschuss für Bedarfsnormen der Gesellschaft für Ernährungsphysiologie (GfE) neue Fütterungsempfehlungen für Milchkühe vor. Reicht uns nicht, was unsere Kühe heute schon leisten? Fragen an Prof. Olaf Steinhöfel, Mitglied des Milchbeirates der Bauernzeitung.

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Futter für Milchkühe: Interview mit Prof. Olaf Steinhöfel

Prof. Steinhöfel, laut Statistik stieg die Milchleistung der ostdeutschen Kühe in gut 20 Jahren um 2.500 Kilogramm auf mehr als 10.000 Kilogramm im Jahr. Zudem wurden sie auch immer älter, gesünder und robuster. Wozu brauchen wir gerade jetzt etwas Neues?

Brauchen ist sicher das falsche Wort. Eine neue Bewertung verbessert ja nicht die Qualität unserer Futtermittelbasis oder die Futterwirkung im Tier. Ob sich durch die Anwendung des neuen Systems an der Rationsoptimierung und dem Fütterungserfolg etwas ändert, wissen wir auch noch nicht so genau. Der Ausschuss für Bedarfsnormen hat zunächst eine wissenschaftlich abgeleitete Empfehlung erarbeitet, welche erst noch in die Praxis überführt werden und sich bewähren muss. Ein erfolgreicher Feldtest damit steht noch aus.

Aber die Aufregung, die um die Einführung herrscht, signalisiert doch schon etwas Verbindliches, oder?

Über dem Ganzen steht „Empfehlung zur Energie- und Nährstoffversorgung von Milchkühen“. Eine Empfehlung ist keinerlei Zwang zu einer Anwendung. Grundsätzlich steht jedem Milchviehhalter frei, welche Basis er für die Futterrationsoptimierung wählt. Wenn er sich jedoch entscheidet, dann müssen die Bewertung des Futterwertes auf der einen und die Bedarfsableitung für das Nutztier auf der anderen Seite zusammenpassen. Ein Mix aus verschieden Bausteinen kann de facto nicht funktionieren.

Neues Bewertungssystem

Und warum sollte man sich für das neue deutsche Bewertungssystem entscheiden?

Das weiß ich auch noch nicht endgültig. Aber wenn sich die Experten der Tierernährung hierzulande Gedanken gemacht und den aktuellen Kenntnisstand der Milchkuhernährung in ein neues Muster übersetzt haben, sollte man es sich schon anschauen und ernst nehmen. Kritik gab es im Vorfeld ja genug. Dazu hat sicher insbesondere die Starrheit der bisherigen Bewertung beigetragen. Schließlich ist die Milchkuh ein Naturphänomen. Eines der größten Säugetiere der Welt lebt in perfekter Symbiose mit den Kleinsten, den Mikroorganismen, und schafft es, mehr als 80 Prozent der aufgenommenen Nettoenergie in Form von Milch an uns weiterzugeben. Auch nahezu drei Viertel der Aminosäuren stammen von den Bakterien. Ein Fütterungssystem für diese Phänomene hat es verdient, dynamisch und nicht allein tabellenkalkulatorisch interpretiert zu werden. In dieser Hinsicht sind uns in den letzten Jahrzehnten viele internationale Arbeitsgruppen enteilt.

Bedarfsgerechte Versorgung der Nutztiere mit Energie und Nährstoffen

Aber nur, um dem Wiederkäuer ein Denkmal zu setzen, muss man doch nicht so vieles umwälzen.

Sicher nicht. Dies ist auch nicht der formulierte Anspruch. Der hauptsächliche Grund, die Futterbewertung an neues Wissen anzupassen, ist immer eine möglichst verlustarme, bedarfsgerechte Versorgung der Nutztiere mit Energie und Nährstoffen. Dies schützt nicht nur den Geldbeutel, sondern vor allem die Tiergesundheit, und es verhindert ein Zuviel an überschüssigen Stoffen in der Umwelt.

Was ist wirklich neu daran?

Seit über 100 Jahren nutzen wir in der deutschen Milchkuhfütterung zur Beschreibung des Energiebedarfs und zur energetischen Futterbewertung die Nettoenergie als Maßstab. Der Leipziger Tierernährer Oskar Kellner mit seinem Stärkewert und später die Rostocker Arbeitsgruppe mit der Energetischen Futtereinheit wurden dafür weltweit anerkannt. Die Überlegenheit des Maßstabs Nettoenergie gegenüber der umsetzbaren Energie war seitdem unbestritten. Nun kehren wir aber zur umsetzbaren Energie zurück.

Datenbasis stammt aus Rostock

Würde sich Oskar Kellner deshalb im Grabe umdrehen?

Nicht unbedingt, denn so kurios es klingt: Die Datenbasis für die aktuelle Ableitung von Energetischem Futterwert und Bedarf stammt aus den Rostocker Archiven. Sie stehen damit in direkter Beziehung zur Idee von Oskar Kellner. Das Rostocker Tierernährungsinstitut trägt übrigens noch heute seinen Namen.

Trotzdem ist das aber doch praktisch ein Schritt zurück?

Es ist ein Schritt zurück, und dafür gibt es verschiedene nachvollziehbare Gründe. Diese sind in der GfE-Publikation* ausführlich dargelegt. Ein gewichtiger Punkt war sicher die bislang unsaubere Trennung zwischen Futterbewertung und Bedarfsableitung. Dies betraf insbesondere die Verwertung der umsetzbaren Energie für Milchbildung und andere Teilleistungen. Und das führte unter anderem dazu, dass der Bedarf für die Erhaltung unterschätzt, der für die Milchbildung überschätzt wurde. Gleichzeitig wird nun ermöglicht, alle Nutztierwiederkäuer und Leistungsrichtungen mit einem Maßstab zu bewerten und sie in einer Futterwerttabelle zu vereinen. Künftige Änderungen in der Bedarfsableitung haben dann auch keinen Einfluss mehr auf die Futterbewertung. Lange kritisiert wurde im alten Ansatz, dass die Höhe der Futteraufnahme keine Rolle spielt, obwohl damit die Passage durch das Tier beeinflusst wird. Die verdauliche organische Substanz in Abhängigkeit vom Futteraufnahmeniveau nimmt im neuen System eine entscheidende Rolle ein.

Lässt sich jetzt schon erkennen, ob sich dadurch in der Fütterungspraxis der Betriebe etwas ändern wird?

Futtermittel mit hoher Verdaulichkeit zeigen eine etwas höhere Ausbeute an umsetzbarer Energie als bisher. Grobfutterqualität wird noch stärker belohnt. Erste Überschlagsszenarien zeigen bei bestem Grobfutter Einspareffekte für Konzentrate von 0,5–1 kg pro Kuh und Tag. Andererseits wird erwartet, dass bei hoher bis sehr hoher Leistung die negative Energiebilanz höher ausfällt, was wiederum einen höheren Konzentrat-Einsatz erzwingt als bislang errechnet. Aber warten wir ab und machen nicht im Vorfeld schon die Pferde scheu.

Futtermittel und Verdaulichkeit

Werden nicht letztendlich neue Tierversuche nötig sein, um die Verdaulichkeit zu bestimmen?

Eigentlich ja. Der Standardverdauungsversuch mit adulten Hammeln ist bisher der Goldstandard der Energiebewertung von Futtermitteln für Wiederkäuer. Aber aufgrund der verständlichen Diskussion um die Vermeidung von Tierversuchen steuert die neue Empfehlung bewusst in Richtung von Alternativmethoden wie Nährstofffraktionierung, Enzymlöslichkeit oder Gasbildungstest in diversen mikrobiellen Cocktails.

Und das Protein? Hier gab es doch die größte Kritik am bisherigen System.

Richtig. Das bisherige Modell „nutzbares Rohprotein“ ist lange schon überholungsbedürftig. Viel zu statisch, tabellenabhängig und unsauber in der Trennung von Futterwert und Bedarf. In der Fütterungspraxis angekommen ist das System deshalb nicht wirklich. Viele haben mit dem Futterrohprotein und dem Milchharnstoffgehalt ihre Rationen justiert. Die zeitliche Abhängigkeit von Abbau und Synthese in den Vormägen wurde, wenn überhaupt, nur empirisch berücksichtigt.

Modell erscheint für Anwender kompliziert

Und das ist jetzt anders?

Ja, das ist es. Zumindest vom Modell her. In der Fütterungspraxis muss auch dieses sich erst noch beweisen. Die komplexen Zusammenhänge im N-Umsatz der Vormägen wurden – auch in Anlehnung an internationale Systeme – in ein Modell gepackt, welches für den Anwender sehr kompliziert und unüberschaubar erscheint. Die neue Schnittmenge zwischen Futterwert und Bedarf ist das dünndarmverdauliche Protein bzw. die dünndarmverdaulichen Aminosäuren. Es kommt deutlich mehr Dynamik ins Spiel, da etwa zeitliche Effekte über das Futteraufnahmeniveau berücksichtigt werden sowie einst starre Größen wie Aminosäuregehalte und -verdaulichkeiten jetzt variabel sind.

Das klingt, als müsste man für die Rationsberechnung Wissenschaftler sein oder zumindest Laborant. Welcher Praktiker soll die komplizierte Proteinbewertung denn verstehen?

Gegenfrage: Wer versteht denn bis ins Detail die Funktionsweise seines Pkw, den er täglich bewegt? Wir leben im Zeitalter von IT-Lösungen. Das gebündelte Wissen der letzten 50 Jahre auf dem Gebiet der Wiederkäuerernährung, welches in den Bibliotheken angehäuft ist, und der Respekt für die vielen Versuchstiere, welche weltweit für den Erkenntnisfortschritt gelebt haben, gehören einfach in ein dynamisches Wiederkäuermodell. Die Zeit ist reif dafür, die Futterwertdaten verfügbarer Einzelfuttermittel in Computer einzugeben und den Fütterungserfolg vorauszusagen. Da sind wir jetzt einen Schritt weitergekommen. Die pragmatische Umsetzung im Stall – das heißt, diese optimierte Computerration den Tieren darzubieten – versteht dann jeder Milchkuhhalter.

Was ist mit Mineralstoffen, Spurenelementen und Vitaminen?

Sonst bleibt aber alles beim Alten?

Hinsichtlich der Mineral- und Spurenelement- sowie Vitaminversorgung gibt es nur wenige graduelle, keine prinzipiellen Änderungen. Erwähnenswert ist, dass die Verwertung des Futterphosphors nun mit 80 statt 70 Prozent höher angesetzt ist. Dies bekräftigt unsere Empfehlung, dass wir bei nahezu allen Rationen aktueller Prägung auf Phosphorzusatz über Mineralfutter verzichten können.

Und die strukturwirksame Rohfaser? Wo ist die geblieben?

Hinsichtlich der Strukturbewertung empfiehlt die GfE wie erwartet das System der physikalisch effektiven NDF. Das ist noch nicht ganz praxisreif. Es vereint zwar die beiden Größen Partikellänge und Strukturkohlenhydrate und macht Struktur analytisch nachvollziehbar, aber es ist keine Größe der Rationsplanung, sondern nur der Rationskontrolle. Die Partikellänge ist ja erst im Futtertrog bekannt. Der analytischen Größe Rohfaser wurde nach meinem Empfinden etwas zu schadenfroh der Laufpass gegeben. Es war sicher mit der Einführung der Faserfraktionen NDF und ADF verständlich, dass die Rohfaser entbehrlich wurde. Die Rohfaser hat es aber nicht verdient, mit Schimpf und Schande vertrieben zu werden. Die Weender Futtermittelanalyse wurde vor mehr als 180 Jahren von den deutschen Wissenschaftlern Henneberg und Stohmann in Weende bei Göttingen entwickelt. Sie war seither weltweit der Maßstab für die Futtermittelanalytik und -bewertung. Den Rohnährstoffen gebührt zunächst ein Denkmal und kein schadenfroher Rausschmiss.

Wie wird das Ganze in die Praxis gebracht?

Zunächst muss das Handwerkszeug neu sortiert werden. Das große Rechnen von Wissenschaftlern, Beratern und der Futtermittelbranche hat begonnen. Dabei stehen die Fütterungstests der vergangenen Jahre auf den Versuchsstationen ebenso im Fokus wie die erfolgreichen Beratungskonzepte mit bekanntem Fütterungserfolg. Die Analytik muss sich auf einige neue Ansätze ausrichten und ihre Attestierungsprogramme neu aufbauen. In Kürze werden in den Untersuchungsberichten der Futtermittellabore parallel zu den alten die neuen Maßstäbe dargestellt sein. Die IT-Fachleute werden zeitnah die Rationsberechnungsprogramme modifizieren, um zunächst zweigleisig zu fahren. Für Ordnung und Harmonisierung zwischen den Arbeitsgruppen und Bundesländern soll traditionell der DLG-Arbeitskreis Futter und Fütterung die Federführung übernehmen. Dieser kommt noch in diesem Jahr zusammen und legt die Marschroute fest. Im vorläufigen Zeitplan steht, dass das neue System bis zum 1. Oktober 2025 praxisreif ist.

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