Ursachen für Schwanzbeißen viel komplexer
Stoffwechselstörungen der Schweine sind entscheidend. Auch Mykotoxine spielen dabei eine Rolle. Die wichtigsten Ergebnisse des Thüringer Pilotprojektes zur Caudophagie.
Von Bettina Karl
Allein die technische Störung eines Lüfters war der Auslöser: Die Schweine kauten an den Schwänzen ihrer Buchtenkollegen herum und verletzten sie. Dabei bestand die unkupierte Gruppe komplett aus vollkommen gesunden und bis dahin verhaltensunauffälligen Tieren. Das berichtete ein Praktiker, der zu den 18 teilnehmenden schweinehaltenden Betrieben des dreijährigen Projektes gehörte. Auf dessen Abschlussveranstaltung in Erfurt wurde vor allem eins deutlich: Die Ursachen für Caudophagie (aus dem Französischen für „Schwanzbeißen“) sind viel umfassender und komplizierter als bisher angenommen. Nicht nur das Futter, die Wasserqualität und -versorgung, das Stallklima, die Genetik, das Platzangebot oder verfügbares Beschäftigungsmaterial beeinflussen mehr oder weniger Schwanzverletzungen. Auch das Zusammenspiel der genannten Faktoren bestimmt, ob Tiere an Schwänzen und Ohren ihrer Artgenossen herumfressen.
KOmmen die Entzündungen von aussen oder von innen?
Darüber hinaus ist der Stoffwechsel der Schweine für Verhaltensstörungen verantwortlich. Es stellt sich nämlich auch die Frage: Kommen die Entzündungen von außen oder von innen?
Hervorzuheben sind dabei die Untersuchungen von Prof. Gerald Reiner, Fachbereich Veterinärmedizin und Klinik für Schweine, Justus-Liebig-Universität Gießen, die er auf der Veranstaltung vorstellte. Demnach spielen auch Belastungen mit Mykotoxinen, beispielsweise durch Futter, eine entscheidende Rolle für Stoffwechselstörungen. Mykotoxine führen zu Entzündungen der Leber und des Darms der Schweine.
Es gebe derzeit weltweit kein intaktes Produktionssystem von Schweinen, das eine hundertprozentige Erhaltung des Ringelschwanzes ermögliche, mahnte Prof. Reiner zur Eröffnung seines Referats. „Es wäre aber zu plakativ gedacht, dass es immer nur um das Schwanzbeißen geht“, gab er zu bedenken. Für primäres Schwanzbeißen gibt es verschiedene Gründe (Futter, Haltung, Wasser usw.).
Sekundäres Schwanzbeißen heißt, es gibt neben den Täter- auch Opfertiere, die stillhalten. Möglich sei das, weil der Schwanz vielleicht zu wenig durchblutet ist oder juckt.
„Ohne Berücksichtigung des Stoffwechsels gibt es keinen dauerhaften Verzicht auf das Schwanzkupieren.“
Prof. Dr. Gerald Reiner, Schweineklinik, Universität Gießen
Darüber hinaus gibt es Schwanznekrosen, das heißt Entzündungen, die ganz ohne Zutun anderer Schweine entstehen. Beispielsweise bei Saugferkeln in den ersten Lebenstagen, wie eine von ihm vorgestellte Studie an 167 neugeborenen Ferkeln belegt. Ringabschnürungen an den Schwänzen von Saugferkeln weisen auf Durchblutungsstörungen hin. Es gibt Kronsaumentzündungen bei Saugferkeln, die auf Einstreu gehalten werden, sowie Schwellungen und Läsionen am Ballen und Sohlen in den ersten Lebenstagen. „Aber woran liegt das?“, fragte der Experte in den gut besetzten Saal.
Entzündungen lösen Unwohlsein aus
Reiner erklärte zunächst, wie überhaupt ein Entzündungsprozess im Körper abläuft: Normalerweise sind Blutgefäße eng und gespannt. Dadurch kann das Blut überall hinfließen. Durch eine Entzündung werden die Blutgefäße geweitet, und das Blut fließt langsamer. Aufgrund die Entzündung selbst entstehen auch Blutgerinnungen. Da sich der Schwanz am Ende des Körpers befindet, muss das Blut dort sowieso erst einmal hinfließen. Eine Verstopfung der Blutgefäße kann eine Entzündung auslösen, die wiederum zu einer Nekrose führen kann (Nekrose: Absterben von Zellen, Gewebs- und Organbezirken als krankhafte Reaktion auf bestimmte Einwirkungen). Entzündungen verursachen Unwohlsein, Appetitmangel und Hormonveränderungen.
Die Ferkel nehmen möglicherweise nicht nur schlechter zu, dadurch sind die Tiere gestresst, und es kann auch zu Schwanz-beißen kommen.
Stress durch gestörte Thermoregulation
Zu den wichtigsten Aspekten, die Stress auslösen, gehört eine gestörte Thermoregulation: Zu beachten ist, dass es einer Sau bereits ab 23 °C zu heiß wird. Schweine kühlen sich über Kontakt zum Boden. Daher sollten ausreichend kühle Flächen zur Verfügung stehen. Wenn das nicht möglich ist, trinken die Tiere viel kühles Wasser. Deshalb ist es wichtig, dass genügend frisches Wasser bereit steht. Wenn nicht, holt sich das Tier das Wasser aus dem Darm. Das Kardinalsymptom dafür ist der sogenannte Kamelkot. Dieser bedeutet Wassermangel. Das Tier werde nicht verdursten, so Reiner, aber der Darm ist einer höheren Belastung ausgesetzt. Ein weiterer Aspekt, der Stress auslöst, ist die Fütterung mit zu viel Eiweiß und Stärke sowie einem zu geringen Rohfasergehalt.
Belastungen kamen von innen
„SINS ist ein komplexes Krankheitsbild und belastet das Wohlbefinden der Schweine“, appellierte Reiner. Bei SINS (Swine Inflammation and Necrosis Syndrome) geht es um Stoffwechselstörungen. Diese zeigen sich an den Schwänzen, Ohren oder dem Kronsaum. Die oben genannte Studie an 167 neugeborenen Ferkeln, bei denen noch keine Zeit für äußere Einwirkungen war, ergab, dass bereits bei diesen:
■ die Schwänze regenwurmartig anschwollen und gerötet waren,
■ die Borsten ausgefallen waren,
■ der Kronsaum entzündet war und
■ Entzündungen an der Schwanzbasis vorkamen.
Seit dem 1. Juli 2019 muss jeder Schweinehalter in Deutschland, der Schweine mit kupierten Schwänzen hält, anhand einer Tierhaltererklärung/Risikoanalyse nachweisen, warum das Kupieren in seinem Tierbestand notwendig ist.
„Diese Entzündungen kamen nachweislich von innen und nicht durch äußerliche Einwirkungen“, erkannte Reiner. Daraufhin wurde der Stoffwechsel der Tiere untersucht und festgestellt, dass die Leber „einfach gesagt, umgeschaltet hatte – vom normalen Stoffwechsel auf den Entzündungsstoffwechsel“. Das belastet die Tiere, ist an Schwänzen und Ohren zu sehen und befördert auch sekundär das Schwanzbeißen.
„Wenn die Wasserqualität nicht stimmt, dann trinken die Ferkel weniger. Wie viel sie saufen, kann man nur mithilfe einer Wasseruhr überprüfen. Man sieht es ihnen nicht an.“
Melanie Große Vorspohl, Tierproduktion Allersleben
Auch die Genetik beeinflusst Schwanzläsionen bei Schweinen. Über 50 Jahren wurden die Tiere auf eine immer höhere Leistung gezüchtet. Um das genetische Potenzial voll ausschöpfen zu können, muss man sehr energiereiches Futter geben. Auch das belaste den Darm, so Reiner.
Nur gesunde Ferkel für unkupierte Gruppe
„Die Ursachen für Schwanzverletzungen sind multifaktoriell“, resümierte auch Melanie Große Vorspohl aus ihren Erfahrungen. Sie ist Betreiberin der Tierproduktion Alkersleben GmbH, eines der federführenden Praxisbetriebe des Projektes.
Ferkel für die Gruppen mit langen Schwänzen sucht Melanie Große Vorspohl für ihren Betrieb selbst nach folgenden Kriterien aus:
■ nur Ferkel von Sauen ohne MMA (Mastitis-Metritis-Agalaktie),
■ nur gesunde Ferkel, die beispielsweise keinen „Kamelkot“ haben und noch nie Durchfall hatten,
■ keine Ferkel von Jungsauen und
■ nur Ferkel von den besten Zuchtsauen.
Bei den Gruppen mit unkupierten Schweinen reduziert die Tierhalterin die Besatzdichte um zehn Prozent. Darüber hinaus wird rohfaserreiches Futter zugefüttert. „Wenn dann keine Influenza kommt, besteht die Chance, dass die unkupierten Ferkel bis zur Mast gesund mit ganzen Schwänzen durchlaufen“, sagte sie und schlussfolgerte:
■ die Risikoanalyse muss alle Stufen der Schweinehaltung umfassen,
■ wir brauchen mehr Wissen, um Nekrosen (SINS) in Aufzucht und Mast zu vemeiden,
■ wir brauchen mehr Kenntnisse über Mykotoxine.
Auf keinen Fall sollten die Schweinehalter erwarten, dass einzelne Maßnahmen sofortige Effekte bringen.
Über ein Jahr Schwänze nicht mehr kupiert
Bei allen Schwierigkeiten, die während des Projektes festgestellt wurden, gibt es Lichtblicke. Sieben Unternehmen haben nach einer über zweijährigen Vorbereitungszeit die Haltung unkupierter Tiere mit kleinen Gruppen, teilweise in bis zu sieben Wiederholungen erprobt. Einer der Projektbetriebe kupiert inzwischen über ein Jahr die Schwänze seiner Ferkel nicht mehr. Ein weiterer Betrieb kann – aufgrund der sich langsam entwickelnden Nachfrage von kleinen Gruppen unkupierter Tiere – diese an Mäster verkaufen. Eine andere Schweinehaltung hat im zweiten Quartal 2019 größere Partien unkupierter Tiere aufgezogen und vertragsgebunden verkauft.
Schlussfolgerungen aus dem Projekt
■ Schwanzverletzungen werden durch viele Faktoren verursacht, diese sind insbesondere: Fütterung, Wasser, Stoffwechsel/Tiergesundheit, Haltung, Genetik und Beschäftigungsmöglichkeiten.
■ Die Haltung unkupierter Schweine erfordert eine intensive Risikoanalyse der Haltungsbedingungen, der Tiergesundheit und des Managements.
■ Die erkannten Schwachstellen müssen in allen Bereichen abgestellt werden.
■ Der Optimierungsprozess braucht viel Zeit und eine ernsthafte Zusammenarbeit aller Beteiligten der Kette in der Schweinehaltung: Tierarzt, Ausrüster für Stallklima/Haltungstechnik, Futtermittellieferanten, Ferkelerzeuger und so weiter.
■ Einzelne Maßnahmen bringen keine sofortigen Effekte. Selbst in der Summe der Schritte kann der Erfolg ausbleiben.
■ Es sollte erst mit der Haltung unkupierter Tiere begonnen werden, wenn es die betriebsspezifische Risikoanalyse zulässt, es keine Ohrrand- oder Schwanznekrosen und Schwanzbeißen im kupierten Bestand gibt und eine stabile Tiergesundheit besteht.
■ Unkupierte Tiergruppen stellen höhere Anforderungen an die – Haltung: altersgerechte Wasser- und Futterversorgung, mehr Platz, stabile Tiergesundheit, optimales Stallklima, verschiedene Beschäftigungsmaterialien und so weiter, – Genetik: ein fittes und gesundes Schwein, – Betreuung: Mitarbeitervorbereitung sowie -schulungen und – eine intensive Tierbeobachtung und Dokumentation
■ Selbst bei bester Prognose ist das Risiko von Schwanzverletzungen bei unkupierten Tieren erhöht. Damit können mehr Behandlungen und Selektionen notwendig werden.
■ Unkupierte Schweine fordern einen höheren personellen und finanziellen Aufwand.
■ Der Pozess muss ständig überwacht und bei veränderten Bedingungen (Genetik, Futter, Technologien) neu konzipiert werden.