Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“

Bollstedt: Dorf mit Auszeichnung

© Birgitt Schunk
Landleben
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Im bundesweiten Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ steht in diesem Jahr das thüringische Bollstedt ganz oben auf dem Treppchen – „für bürgerschaftliches Engagement, beispielhafte Ideen und zukunftsweisende Konzepte“. Wir haben uns im Golddorf umgeschaut. 

Von Birgitt Schunk

Wenn Hans-Martin Menge beim Bäcker in Bollstedt auftaucht und einen Kaffee bestellt, gibts das Nougattörtchen automatisch dazu. Man kennt sich und weiß schließlich, was der einstige Bürgermeister gerne isst. „Da muss ich nicht erst fragen“, sagt die Verkäuferin und stellt auch an diesem Tag das Backwerk ganz selbstverständlich auf den Tisch. Der Laden ist tagsüber der einzige Treffpunkt im Dorf, weitere Einkaufsmöglichkeiten gibt es nicht. Deshalb kann man hier außer Brot und Kuchen auch einige andere Dinge für den täglichen Bedarf mitnehmen. Ansonsten fahren die Bollstedter zum Einkaufen fünf Kilometer bis nach Mühlhausen.  

Seit Januar ist das Dorf ein Ortsteil der thüringischen Kreisstadt – als Städter fühlen sich die Bollstedter dennoch nicht. Mit breiter Brust haben sie das Gold im Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ entgegengenommen. „Das hat viel freigesetzt“, sagt Ortsteilbürgermeister Thomas Ahke, der in große Fußstapfen getreten ist. Hans-Martin Menge war mit seiner 36-jährigen Amtszeit Thüringens dienstältester Bürgermeister, der seit diesem Jahr nun im Ruhestand ist. Er hatte auch die Teilnahme am Dorfwettbewerb eingerührt. „Überzeugt waren die Leute damals nicht unbedingt davon, sie wollten mir wahrscheinlich einen Gefallen tun und haben halt mitgemacht“, sagt Menge. Im Regionalausscheid gab es 2017 den 3. Platz für das 1.060-Seelen-Dorf. Ein Jahr später im Landeswettbewerb kam Bollstedt auf Platz zwei. „Normalerweise müsste von der Reihenfolge her nun Gold kommen, habe ich damals gesagt, aber überzeugt war ich nicht davon“, kann sich der ehrenamtliche Ortsteilbürgermeister Thomas Ahke noch gut erinnern. „Andere hatten viel mehr aufzubieten.“  

Es geht um mehr als die schicke Fassade 

Dennoch entwickelte sich von Ausscheid zu Ausscheid eine gewisse Eigendynamik. Die Bollstedter empfingen die Jury – und mussten keinen Schaum schlagen. Ihnen wurde bei der ganzen Vorbereitung eigentlich selbst erst richtig bewusst, was sie doch alles im Dorf schon geschaffen und bewegt hatten. Genau das wollen solche Wettbewerbe auch erreichen, bei denen es längst um weit mehr geht als um schicke Fassaden und intakte Gehwege.  

Bereits 1999 waren Flurbereinigung und Dorferneuerung ein Thema. Damals fuhren zwanzig Bürger nach Bayern zu einem Seminar, das sich genau damit befasste. Die Ideen sprudelten nur so. „Und alles wurde umgesetzt“, sagt Altbürgermeister Menge. Wo einst eine kleine Pfütze vor sich hindümpelte, wurde ein wunderschöner Dorfteich angelegt. Auf der alten Bahntrasse führt heute ein Radweg entlang – eine alte Schmiede wurde zum Aktivmuseum. Kinder des Dorfes haben hier schon Hufnägel zu kleinen Anhängern für die Halskette umgearbeitet – und waren begeistert. Am Dorfteich entstand ein Bauerngarten, in dem die Kinder säen, ernten und naschen dürfen. Alle „Bäume des Jahres“ kamen in den Boden. Und zwischen den Korbweiden entstand ein wilder Spielplatz. „Hier wollen wir aus den Ästen noch einen Kriechtunnel bauen“, sagt Ahke. Mit „wir“ meint er den Landschaftspflegeverein, dessen Vorsitzender er ist. 2005 gegründet, kümmern sich die rund 30 Mitglieder um das Areal, das sich zum Naherholungszentrum entwickelt hat. Fast 1.000 Kopfweiden sind in Pflege, Müll wird ebenso gesammelt. Doch der Verein koordiniert inzwischen ebenso viele andere Aufgaben, die im Dorf anstehen.  

Auch was für Kinder

Auch die Mädchen und Jungen des Kindergartens kommen gerne mit ihren Erzieherinnen zu Riedgarten, Hexenwäldchen oder Hölzchen. „Mit den Ortsbezeichnungen können die Kinder schon etwas anfangen, sie wissen auch, wo Friseur, Bäcker und LPG zu Hause sind“, sagt Erzieherin Claudia Schwarzburg. Und das bindet. In den kommenden Wochen geht es wieder regelmäßig in die Sauna der Kita. Bei Geschichten, leiser Musik, Obst und dezentem Licht lernen die Jüngsten, die Ruhe zu genießen und zu entspannen. Dieses Angebot hat der Kindergarten der ortsansässigen Agrargenossenschaft zu verdanken, die die Sauna selbst nicht benötigte und deshalb hier vor Jahren schon einbauen ließ. 54 Kinder besuchen heute die Kita. An diesem Freitagnachmittag geben sich die Eltern die Klinke in die Hand, holen ihre Sprösslinge ab, einige verabreden sich. Das Wochenende steht vor der Tür. Am Abend gibt es einen runden Geburtstag im Dorf, bei dem man sich trifft. Im Vereinshaus wird eine Bullerparty für einen neuen Erdenbürger vorbereitet. Die eine oder andere Grillparty ist ebenso geplant. Alleine bleiben muss man in Bollstedt nicht.  

Freitags ist in Bollstedt Familientreff

Dieses Gefühl tut auch der älteren Generation gut. „Bei uns wandern die jungen Leute nicht so ab wie anderswo“, sagt Anni Meinlschmidt. Gemeinsam mit ihrem Mann Paul und weiteren Senioren sitzt sie oft vorm Haus „auf der Brücke“. Der Platz hat seinen Namen, weil einst hier ein offener, schlammiger Graben entlangführte. „Da hatten wir immer dreckige Schuhe.“ Heute sei es überall schön im Dorf. Häuser und Höfe sind hergerichtet, überall wird gewerkelt. Zu schwatzen gibt es immer etwas. Und Freitag ist Familientreff. Um diese Jahreszeit gibt es Zwetschgenkuchen.

„Wenn alle kommen, sind wir 18 Leute“, erzählt die 88-Jährige. Zwei Enkel und sieben Urenkel haben sie und ihr Mann, die seit 70 Jahren verheiratet sind. Jung hilft alt – alt hilft jung. Die Enkelin sortiert den Großeltern immer die Tabletten. „Jeder hat seine Aufgabe.“ Und so funktioniert in vielen Familien die Bande zwischen den Generationen noch, die anderswo schon verloren ging. Auch die Jungen wissen das zu schätzen – und wandern nicht in Scharen nach Hamburg oder München ab. In den letzten Jahren sind 26 neue Eigenheime im Dorf gebaut worden. „Wir haben dabei besonders auf die Innenentwicklung gesetzt. Und wenn ein Haus verkauft wird, stehen gleich drei Anwärter da“, sagt Altbürgermeister Hans-Martin Menge. „Ein Leerstandskataster brauchen wir nicht.“

Jeder hilft jedem

Vorm Haus von Wilfried Hohlstein sprudelt tagein, tagaus ein Springbrunnen, die Rosen stehen in voller Blüte. Das Wasser läuft über Kaskaden nach unten. „Das hat er alles ausgetüftelt, gebaut und er hält alles auch gemeinsam mit seiner Frau in Schuss“, weiß Thomas Ahke. Beide gehören zu jenen, die immer wieder freiwillig Hand anlegen und etwas pflegen. „Da kommen sogar Bürger und fragen, ob sie vorm Haus eine Ecke pflastern können, damit es schöner aussieht.“ Auch das Schützenhaus mit Schießstand würde es heute wohl so nicht geben, denn auch dieses Objekt entstand in Eigenleistung.

Dass dabei bis heute ebenso die Parkanlage mit gepflegt wird, ist fast schon eine Selbstverständlichkeit. Ist ein Projekt verwirklicht, reicht der Schwung meist schon, um den nächsten Schritt zu gehen. Ein altes Gewächshaus, das nicht mehr genutzt wurde, haben die Bogenschützen in eine Trainingshalle umgewandelt. Sie können so ihrem Hobby auch in der kalten Jahreszeit nachgehen. Hier waren ebenso viele freiwillige Arbeitsstunden notwendig. „Ohne den Agrarbetrieb wäre das alles allerdings nicht möglich gewesen“, sagt Trainer Bernd Freiberg. Dem landwirtschaftlichen Unternehmen gehört das Gebäude. „Und auch sonst bekommt man immer Unterstützung – selbst wenn wir mal ein Bündel Stroh fürs Bogenschießen brauchen.“  

Fünf Euro für jeden Eimer Müll 

Die Agrargenossenschaft Bollstedt ist der einzige größere Betrieb im Ort. Die Landwirte sind willkommen und geachtet im Dorf. Man spricht vom gegenseitigen Geben und Nehmen. Georg Eisenhardt, der Vorstandsvorsitzende, ist im Dorf geboren und aufgewachsen. Er stammt aus einer alten Bauernfamilie. Was im Ort geschieht, liegt ihm am Herzen. Der Betrieb hat die Sanierung des Kirchhofes und des Sportsaales sowie den Ausbau des Vereinshauses unterstützt. Die Liste ist lang. „Wir haben aktive Leute im Ort, die etwas bewegen und Gelder fürs Dorf gut einsetzen“, sagt der Agrarchef. Wenn Vereine kommen und ein paar Euros wollen, dann gibt der Betrieb keinen Blanko-Scheck. „Wir helfen gerne und unterstützen am liebsten konkrete Projekte.“  

Zu tun gibt es schließlich genug – vom Müllaufsammeln bis zu Pflegearbeiten an der Unstrut. Dem Kindergarten spendierte der Betrieb fünf Euro für jeden Eimer Müll, der aufgelesen wurde. Das hatte den Effekt, dass der Nachwuchs seither selbst darauf achtet, dass nichts achtlos weggeworfen wird. „Ich habe immer versucht, einen Anschub zu geben.“ Im Beratungsraum des Betriebes hängen Plakate aus dem Kindergarten mit Bildern und der großen Aufschrift „Danke“. Auch das neue Haus der Vereine gehört dem landwirtschaftlichen Betrieb. Es war einmal das Sozialgebäude der alten Gärtnerei. Viel wurde abgerissen und fast alles neu aufgebaut. Unzählige Stunden leisteten hier auch die Bollstedter. Mit den Vereinen gibt es Nutzungsverträge. Und freies Wlan gibt es auch. In der oberen Etage des Hauses wurde sogar ein Fitnessstudio eingerichtet mit modernen, leistungsstarken Geräten, die der Landschaftspflegeverein aus einer Insolvenz heraus kaufte. „Das war nur eine Zwischenlösung, denn mit dem Fitnessklub Bollstedt gründete sich danach ein Verein, der mittlerweile 110 Mitglieder hat“, sagt Ahke. Für zehn Euro im Monat können die Frauen und Männer hier regelmäßig ihre Muskeln kräftigen und etwas für die Gesundheit tun.  

Schönster Garten gesucht 

Trotz der Goldmedaille ist auch in Bollstedt nicht alles Gold, was glänzt. Die gemeindeeigene Gaststätte muss saniert werden. Ein Aufzug ist zudem für einen barrierefreien Zugang geplant. Die Baugenehmigung steht noch aus. Im Dorf soll es außerdem noch mehr grünen und blühen. Deshalb wurde in diesem Jahr erstmals ein Wettbewerb um den schönsten Garten ausgelobt. Zehn Bewerber machten mit. Auch am Vereinshaus werden sich künftig Wein­reben emporranken. Und in den Parkanlagen wartet noch Arbeit. 

Im Sportraum gegenüber der Kirche herrscht an diesem Freitagabend emsiges Treiben. Hier haben die Sektionen Tischtennis und Gymnastik des Sportvereins ihren Platz. Gegenüber ragt die sanierte Kirche in die Höhe – auf deren Vorplatz feiert das Dorf alljährlich die Kirmes. Der Weihnachtsmarkt findet hier ebenso statt. Selbst die acht Meter große Pyramide, die dann aufgestellt wird, ist Marke Eigenbau. Lukas Köhler, der Vorsitzende des Kirmesvereins, hat es eilig an diesem Abend. Ein kurzes Hallo zum Ortschef und schon will der oberste Kirmesbursche weiter. Sein Verein hat 32 Mitglieder. „Mit 28 bin ich schon der Opa“, sagt er. Über seine Freundin kam er in das Dorf, spielte Fußball und machte bei der Kirmes mit. „Und ganz schnell ist man integriert.“ Über das traditionelle Fest zur Kirchweih kommen immer wieder junge Leute nach, die die alten Traditionen leben, sich meist auch später im Dorf engagieren und Verantwortung übernehmen – und das ist Gold wert. Thomas Ahke, Georg Eisenhardt und Hans-Martin Menge legten sich einst ebenso als Kirmesburschen ins Zeug. „Auch aus uns ist also etwas Ordentliches geworden“, sagt der Altbürgermeister und kann sich ein Augenzwinkern nicht verkneifen.