Wolfszählung: Datenlücke zur Realität wächst
Wie viele Wölfe gibt es wirklich? Im Herbst präsentiert das Bundesamt für Naturschutz die offiziellen Wolfszahlen. Sie unterscheiden sich erheblich von denen des Jagdverbandes. Wir haben untersucht, warum.
Mit 23 neuen Rudeln erreicht der Wolfsbestand in Deutschland einen neuen Höchststand. Die vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) vorgelegte Zahl liegt nun bei bundesweit 128 Rudeln, 35 Paaren sowie zehn Einzelgängern. Ein Jahr zuvor hatte das Monitoring noch 105 Rudel, 41 Wolfspaare und dazu zwölf Einzelwölfe ergeben.
Obwohl damit auch offiziell die erneute Zunahme der Wolfspopulation bestätigt wurde, wirft der Deutsche Jagdverband (DJV) dem Bundesamt vor, die Ergebnisse seines Monitorings kleinzurechnen. „Im Extremfall“, kritisierte DJV-Vizepräsident Helmut Dammann-Tamke, „sind die Zahlen bei Erscheinen schon anderthalb Jahre alt.“ Tatsächlich endete das Monitoringjahr 2019/20 am 30. April. Der Nachwuchs vom Frühjahr wurde also nicht berücksichtigt.
Zudem lassen die Angaben des BfN keine Aussage zu, wie viele Wölfe tatsächlich durch Deutschland streifen. Denn auch die – naturgemäß kaum zu erfassenden – jungerwachsenen Einzelwölfe, die noch auf der Suche nach einem festen Territorium sind, tauchen in der Statistik nicht einmal als Schätzung auf.
Wolfszählung: Amtliche methode in der Kritik
Zur Begründung für seine Zählweise führt das Amt seit Beginn des Monitorings immer wieder die gleichen Gründe an: Zum einen sei das Monitoring der Bundesländer nicht auf die Erfassung von Individuen ausgerichtet. Zudem variierten die Rudelgrößen sehr stark, sodass eine Schätzung eines Gesamtbestands bestenfalls nur mit einer großen Unsicherheit durchgeführt werden könne. Und nicht zuletzt mache es keinen Sinn, die frisch geworfenen Welpen als jene Altersklasse mit der höchsten Sterblichkeit zu zählen.
Nach DJV-Hochrechnungen lebten bereits in diesem Frühjahr insgesamt rund 1.800 Wölfe in Deutschland. Vermutlich markiert diese Zahl eher das obere Ende der Skala von geschätzten bzw. mehr oder weniger großzügig berechneten Bestandszahlen, die in der Debatte um den Schutz des Wolfes und den Konsequenzen daraus kursieren. Aber selbst gegenüber den Landnutzerverbänden kritisch eingestellte Artenschützer sehen die offiziellen Zahlen als nicht aussagekräftig genug an. So hatte der im vorigen Sommer verstorbene und weithin anerkannte Wildbiologe Ulrich Wotschikowsky bereits 2018 angemahnt, das offizielle Monitoring zu verbessern. Um, wie er sagte, „Spekulationen über die Größe des tatsächlichen Wolfsvorkommens“ den Nährboden zu entziehen, legte er eine Methode vor, aus der bekannten Zahl der Rudel die Gesamtzahl der Einzeltiere abzuschätzen.
Nach Wotschikowskys Annahmen müsste die Zahl der am Ende des Monitoringjahres bestätigten Rudel mit dem Faktor 8,25 multipliziert werden, um die Zahl aller Wölfe zu diesem Zeitpunkt zu erhalten. Damit gab er zugleich eine konkrete praxisnahe Rudelgröße vor, denn in der Literatur schwanken die Annahmen zwischen drei und elf Tieren.
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Dennoch hält das Bundesamt weiter daran fest, wegen „stark schwankender Rudelgrößen“ keine Angaben zur Gesamtzahl machen zu können. Dabei geht Wotschikowskys Rechnung durchaus auf: Mit drei multipliziert, ergibt sich aus der Rudelzahl die Zahl erwachsener Tiere. Auf diese Weise errechnete er für den April 2017 einen Wert von 180 adulten Wölfen, während die offzielle Statistik 150-160 auswies. Die Differenz erschien ihm plausibel, weil er die unverpaarten, nicht ortsfesten Tiere erfasst hatte, die das Bundesamt stets weglässt.
Zuwachs blieb unter den Erwartungen
Nach den Regeln der Mathematik wird die Lücke zwischen den offiziellen Zahlen und der Realtiät desto größer, je mehr die Population anwächst. Und das tut sie ungebrochen, wenngleich das Wachstum jetzt ein kleines Stück hinter den Erwartungen zurückblieb. „In der Tat ist es so, dass wir jetzt von 1.477 Wölfen bundesweit ausgehen müssen“, bestätigt Gregor Beyer, Geschäftsführer des Brandenburger Landnutzernetzwerkes Forum Natur (FNB). „Die aktuellen Zahlen bedeuten, dass die Zunahme des nationalen Wolfsbestandes unter dem prognostizierten Populationsmodell zurückbleibt, wonach es in diesem Jahr über 1.620 Wölfe hätte geben müssen (Abbildung).
Beyer rechnet mit dem „Wotschikowsky-Faktor“, den er aber auf glatt 8,0 abrundet, und legt einen jährlichen Zuwachs von 35 % zugrunde. Sein Prognosemodell bleibt ein ganzes Stück hinter den Schätzungen des Jagdverbandes zurück, was aus seiner Sicht aber nicht ausschlaggebend ist. Denn die für den Schutz und den Fortbestand der Art nötige Populationsgröße sei so oder so erreicht.
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Mittlerweile wurde der Wolf in 15 der 16 Bundesländer nachgewiesen, berichtet das Bundesnaturschutzamt, wobei sich das Vorkommen nach wie vor auf Sachsen, Brandenburg, SachsenAnhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen konzentriert. Angesichts dessen hat das bundesweite Aktionsbündnis Forum Natur zehn Forderungen an die in dieser Woche tagende Umweltministerkonferenz gestellt.
Die erste lautet: Der Wolfsbestand in Deutschland dürfe nicht kleingeredet werden; die Zählweise des Bundesamtes müsse zeitnah erfolgen und nachvollziehbar sein und den Gesamtbestand erfassen. Weitere Forderungen:
- Bund und Länder legen einen „Akzeptanzbestand“ fest, um den unkontrollierten Anstieg des Wolfsbestandes zu vermeiden.
- Alle Länder ermöglichen jetzt in ihren Wolfsverordnungen eine effektive Wolfsregulierung.
- Der Wolf ist sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene in das Jagdrecht aufzunehmen.
- Die Länder müssen Präventionsmaßnahmen finanzieren und Risse vollständig entschädigen.
- Die Länder müssen eine unbürokratische Rissbewertung sicherstellen und zugunsten der Geschädigten eine Beweislastumkehr einführen.
- Der Bund muss die Spielräume des Art. 16 FFH-Richtlinie zur Entnahme von Wölfen vollständig umsetzen.
- Bund und Länder müssen die bestehende Möglichkeit von Schutzjagden im nationalen Recht anerkennen.
- Die deutsche Ratspräsidentschaft muss eine Initiative zur Umstufung des Wolfes von Anhang IV in Anhang V der FFH-Richtlinie starten.
Aus Sicht des Bundesnaturschutzamtes ist der günstige Erhaltungszustand bislang nicht erreicht, weshalb es auch alle Forderungen nach Änderungen am Schutzstatus des Wolfes zurückweist. Auch Bereitschaft, mit einer angepassten Zählweise die wachsende Lücke zwischen Statistik und Realität zu schließen, war bisher aus der Behörde nicht zu vernehmen.