Estland – Wald und Wild
Es mag daran gelegen haben, dass nach vielen Stunden intensiver Informationsaufnahme in geschlossenen Räumen und einer langen Busfahrt der Kontrast so groß war: Als die Journalisten aus Deutschland für eine Stunde auf Wanderschaft durch den estnischen Wald geschickt werden, schmeckt die Luft, als hätte man extra für die Besucher noch eben eine Hundertschaft Sauerstoffflaschen geleert. Die Luft ist rein, der Himmel von makellosem Blau. Kein Wunder, dass die Kiefern ihm so entschlossen entgegenwachsen.
Von Heike Mildner
50 % der estnischen Landesfläche (45 227 km²) bestehen aus Wäldern, weitere 20 % sind Moor- und Sumpfgebiete: ideale Bedingungen für Wildtiere. Auch für manch ambitionierten Jäger aus Deutschland ist Estland daher eine Reise wert. Besonders wegen der 12 000 Elche, die hier leben. 5 000 davon wurden 2012 geschossen – eben so viele Jagdtouristen kommen jährlich aus dem Ausland – die Hälfte von ihnen aus Finnland, berichtet Kalev Männiste von der Staatlichen Forstverwaltung in Tallinn. Doch auch für die etwa 16 000 estnischen Jäger, von denen rund 10 000 aktiv sind, bleibt noch genug Wild übrig.
Für den Abschuss eines Elches würden im Durchschnitt 700 € gezahlt, einen staatlich festgelegten Preis gäbe es dafür nicht, erläutert der estnische Forstexperte auf Nachfrage, gejagt werde vom 15. September bis 1. April.
Auch die natürlichen Feinde des imposanten nordischen Hirsches sind in den estnischen Wäldern anzutreffen und dürfen bejagt werden: 100 bis 150 Wölfe würden jährlich geschossen, so Männiste. Wie viel es insgesamt gibt, sei unbekannt und zudem von Jägerschaft und Naturschützern umstritten. Was die Braunbären betrifft, habe man sich auf eine Abschussquote von 10 % verständigt – 50 bis 60 Bären jährlich. Am 1. August beginnt die Bärenjagd und endet, wenn die Quote erreicht ist. Und auch Luchse dürfen in Estland bejagt werden – jährlich etwa 200 der etwa 700 Tiere. Für den mit fünf Prozent verhältnismäßig hohen Anteil des Wildfleisches (4 000 t/ Jahr) an der estnischen Fleischproduktion sind allerdings wohl eher die 18 000 erlegten Wildschweine (Anzahl von 2012) verantwortlich.
Doch nicht nur Jäger und Freunde eines leckeren Wildgerichts profitieren von Estlands wilden Wäldern, die über zahlreiche Wege zu erwandern sind. Der längste führt 370 km von Oandu an der Ostsee durch den Nationalpark Lahemaa Richtung Süden durch sechs Schutzgebiete und den Nationalpark Soomaa bis nach Ikla an der lettischen Grenze. Er wurde erst 2012 von der Staatlichen Forstverwaltung ausgewiesen.
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.visitestonia.ee Menüpunkt Nationalparks, in deutscher Sprache und auf der Seite des Forstamtes www.rmk.ee, wo detaillierte Karten zu finden sind.
Ein Fakt aus dem Gespräch mit dem Forstexperten des wolfserfahrenen Landes, der uns Deutsche hinsichtlich der Rückkehr Isegrims beruhigen sollte: In Estland habe es seit gut 300 Jahren keinen (für die Zweibeiner) tödlichen Zwischenfall zwischen Mensch und Wolf gegeben. Doch nicht zu früh gefreut: Auch die estnischen Bauern sehen die Natur ihres Landes mit einem lachenden und einem weinenden Auge, ist von Ruve Schank, unserem Reisebegleiter vom Landwirtschaftsministerium zu erfahren: In Nordestland beispielsweise müssten Landwirte zweimal säen. Das erste Mal für die Schwäne und Wildgänse, die sich auf ihrem Weg von Südeuropa nach Finnland vor ihrem Flug über den Finnischen Meerbusen noch einmal stärken.
Während estnische Naturschützer mit estnischen Jägern darüber diskutieren, wie viel Wölfe zu viel seien, würden hunderte Isegrims in Seelenruhe die wenigen estnischen Schafe reißen. Die Fischer müssen derweil zusehen, wie Robben und Kormorane Tausende Tonnen Fisch verschlingen, und auf den Feldern von Kartoffelbauern übernehmen fleißige Wildschweine die Nachtschicht, sodass am nächsten Morgen ein kleineres Feld aussieht wie umgepflügt. Und auch Imker schlafen mitunter schlecht, könnte es doch sein, dass ihre Bienenstöcke nachts von großen braunen Feinschmeckern Besuch bekommen, gibt Schank zum Besten.
Bei aller Ironie – die andere Seite der Medaille blitzt deutlich auf, während wir die Waldluft in die Lungen ziehen und hoffen, keinen Bären zu wittern. Die soll man einen Kilometer gegen den Wind riechen, und im Gegensatz zum Wolf kann eine Begegnung mit Bären für Menschen ziemlich brenzlig werden.