Kultiviertes Fleisch: Kommen Hamburger bald aus dem Labor?

Das niederländische Start-up Mosa Meat verhandelt zurzeit mit den zuständigen Behörden über eine Zulassung für die Vermarktung von In-vitro-Rindfleisch in Europa. (c) Mosa Meat
Betriebsführung
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Es deutet sich an, dass die Ernährungsindustrie vor dem größten Wandel aller Zeiten steht. Pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte sind dabei nur der Auftakt. Mit kultiviertem Fleisch steht die nächste Technologie in den Startlöchern. Der größte Hersteller der Welt könnte bereits im Jahr 2030 ohne Tiere auskommen.

Von Prof. Nick Lin-Hi, Professur für Wirtschaft und Ethik, Universität Vechta

Es gab schon einmal bessere Zeiten für die Landwirtschaft – so oder ähnlich lässt sich die aktuelle Situation der Landwirte euphemistisch zusammenfassen. Die Corona-Pandemie hat noch einmal den ohnehin harten Preiskampf in der Branche verschärft, und immer mehr Höfe kämpfen um ihre Existenz. Hinzu kommt eine zunehmende Entfremdung zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen die Landwirte, welche mit harter Arbeit die Ernährung von Millionen von Menschen sicherstellen. Auf der anderen Seite steht die allgemeine Öffentlichkeit, welche die landwirtschaftliche Wertschöpfung eher wenig wertschätzt oder diese gar kritisiert.

Man lehnt sich vermutlich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn man annimmt, dass sich viele Akteure in der Landwirtschaft nach den guten alten Zeiten zurücksehnen. Indes ist einer solchen Hoffnung eine klare Absage zu erteilen. Die Landwirtschaft steht vor massiven Veränderungen, und die guten alten Tage werden in dieser
Form nicht zurückkehren. Die Landwirtschaft tut daher gut daran, sich zu vergegenwärtigen, dass Industrien und Märkte einem ständigen Wandel unterliegen. Die Anpassung an Veränderungen ist dabei eine grundlegende Voraussetzung, um die eigene Zukunft zu sichern. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage von Charles Darwin sehr passend: „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“

Fleischersatz mit Erfolg am Markt

Seit geraumer Zeit mehren sich die Zeichen, dass die Agrar- und Ernährungsindustrie – und damit auch die Landwirtschaft – vor dem größten Wandel aller Zeiten steht. Einen Vorgeschmack hierauf gibt der Markterfolg von pflanzenbasierten Fleischersatzprodukten, welche spätestens seit 2019 in nahezu jedem Supermarkt zu finden sind. Der Erfolg dieser Produkte lässt sich einfach erklären: Sie kommen den fleischhaltigen Produkten sehr nahe. Die neue Generation der Produkte zielt daher auch nicht auf Veganer und/oder Vegetarier als Zielgruppe, sondern auf den klassischen Fleischesser. Dies zeigt sich auch in der Form, dass diese pflanzenbasierten Produkte direkt neben der klassischen Rindsbratwurst oder der Frikadelle aus Schweinefleisch im Frischeregal zu finden sind.

Künstlicher Fleischersatz
Singapur lässt als erstes Land der Welt Hühnerfleisch aus Zellkulturen zu. Hersteller der Chicken Nuggets ist das US-Unternehmen Eat Just. (c) imago images / Agefotostock

An dieser Stelle wird sich der ein oder andere vielleicht fragen, warum es Produkte braucht, welche Fleisch imitieren – man könnte ja einfach auch auf Fleisch verzichten. Der Grund hierfür ist: Der Konsument verzichtet nicht gerne. Auf der einen Seite möchte der Konsument sich gerne nachhaltiger ernähren, auf der anderen Seite liebt er aber auch den Geschmack von Fleisch. Ebendieses Dilemma lösen Produkte, welche Fleisch im Aussehen und Geschmack sehr ähnlich sind. Sie bieten die Möglichkeit, den eigenen Fleischkonsum zu reduzieren, ohne sich hierfür besonders einschränken zu müssen. Während früher vegane und vegetarische Ernährung immer auch mit Verzicht verbunden war, so bieten die neuen Produkte quasi die Fleischillusion. Dies bringt es mit sich, dass die harten Grenzen zwischen Veganern und Vegetariern auf der einen Seite sowie Fleischessern auf der anderen Seite zunehmend verschwimmen. Damit verbunden ist auch die Entstehung einer neuen Konsumentengruppe – die der sogenannten Flexiganer beziehungsweise Flexitarier.

Kultiviertes Fleisch aus dem Labor

Pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte sind indes nur der Auftakt für die anstehenden Veränderungen. Mit kultiviertem Fleisch steht bereits die nächste Technologie in den Startlöchern. Kultiviertes Fleisch stammt nicht mehr vom Tier, sondern wird im Labor produziert. Ausgangspunkt für kultiviertes Fleisch bildet typischerweise eine Stammzelle, welche einem Tier entnommen wird. Aus dieser Stammzelle werden Hamburger dann in einer Nährlösung Fleischfasern gezüchtet, aus denen dann anschließend Produkte wie Bratwürste, Hackbällchen oder Chicken Nuggets hergestellt werden können. Technisch funktioniert dies bereits für unstrukturierte Fleischprodukte, und auch der Preis bewegt sich klar in eine wettbewerbsfähige Richtung. 2013 kostete der erste Burger aus kultiviertem Fleisch noch 250.000 €, heute liegen die Kosten bei deutlich unter 10 €.

Kultiviertes Fleisch hat das Potenzial, die Agrar- und Ernährungsindustrie auf den Kopf zu stellen, weil es das bessere Produkt ist. Während die zuvor angesprochenen pflanzenbasierten Fleischersatzprodukte so ähnlich wie echtes Fleisch schmecken – und das auch nur, weil sie jede Menge Gewürze und Co. enthalten –, ist kultiviertes Fleisch nicht vom tierisch produzierten Fleisch zu unterscheiden. Es riecht genauso, es sieht genauso aus, und es schmeckt auch genauso. Es ist ein perfektes Substitut. Hinzu kommt, dass kultiviertes Fleisch mit dem Versprechen auf eine nachhaltige Ernährung einhergeht. Dieser Punkt ist vor dem Hintergrund zu betonen – obgleich man dies in der Agrar- und Ernährungsindustrie nicht gerne hört –, dass die heutige Form der Lebensmittelerzeugung klar negative externe Effekte für Boden, Wasser, Luft und Klima bedingt. So ist beispielsweise unsere heutige Ernährung für gut 30 % der menschengemachten Treibhausemissionen verantwortlich, wovon wiederum etwa die Hälfte auf den Fleischkonsum zurückzuführen ist.

Der Preis ist das wichtigste Kriterium

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle deutlich betont, dass es hier darum geht, ein gesellschaftliches Problem aufzuzeigen, und nicht darum, die Agrar- und Ernährungsindustrie an den Pranger zu stellen. Faktisch sind Produktion und Konsumption zwei Seiten derselben Medaille. Die Art und Weise der Wertschöpfung spiegelt somit das wider, was Konsumenten nachfragen: möglichst günstige Produkte. Zwar geben Konsumenten auf der einen Seite in Befragungen regelmäßig an, sich mehr Nachhaltigkeit zu wünschen und hierfür auch mehr bezahlen zu wollen. Auf der anderen Seite schlägt sich dieser Vorsatz nur selten in realen Kaufentscheidungen nieder. Das Phänomen des Auseinanderfallens von Intention und Verhalten ist insbesondere im Lebensmittelbereich zu beobachten, wo der Preis vielfach das
ausschlaggebende Einkaufskriterium darstellt.

Obgleich kultiviertes Fleisch dem heutigen Produkt in Bezug auf Nachhaltigkeit deutlich überlegen ist – so wird etwa geschätzt, dass mit dieser Technologie Treibhausemissionen und Landverbrauch bei der Fleischproduktion um bis zu 90 % reduziert werden können –, so dürfte am Ende des Tages der Preis der Faktor sein, der darüber entscheidet, dass sich kultiviertes Fleisch am Markt durchsetzen wird. Es ist zu erwarten, dass die Produktionskosten langfristig unter denen von tierisch erzeugtem Fleisch liegen werden, infolgedessen es auch im Supermarkt günstiger angeboten werden kann. Der Kostenvorteil von kultiviertem Fleisch wird dabei insbesondere durch drei Faktoren bedingt: Erstens sind klassische Skalenerträge zu erwarten, das heißt, mit steigendem Produktionsvolumen sinkt der Preis je produzierter Einheit. Zweitens sind die Wertschöpfungsketten weniger komplex und es braucht weniger Akteure, um Fleisch zu erzeugen. Drittens ist ein immenser technischer Fortschritt zu erwarten, welcher dadurch beschleunigt wird, dass gerade Hunderte Millionen an Euro und Dollar in Forschung und Entwicklung investiert werden.

Besser nicht die Zukunft ignorieren

Die bisherigen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Kultivierung von Fleisch mehr als eine ernsthafte Alternative zu der heutigen Fleischproduktion darstellt. Wenn kultiviertes Fleisch billiger und nachhaltiger ist, dann fällt es schwer, Gründe zu finden, die für die klassische Fleischerzeugung sprechen. Es braucht an
dieser Stelle nicht mehr allzu viel Fantasie, um die damit verbundenen Implikationen für die heutige Landwirtschaft abzuleiten. Im Prinzip steht das vor der Tür, was Schumpeter einst als „schöpferische Zerstörung“ bezeichnete.

Man kann das Ganze nun aus einer Bedrohungsperspektive betrachten und versuchen, die Zukunft zu ignorieren und Veränderungen so lange wie möglich hinauszuzögern. In diesem Fall ist zu befürchten, dass der Agrar- und Ernährungsindustrie ein ähnliches Schicksal wie der heimischen Automobilindustrie droht, welche viel zu lange an der Verbrenner-Technologie festgehalten hat und gerade panisch versucht, sich irgendwie in die Zukunft zu retten. Erst durch das Zögern der Automobilindustrie war es Tesla überhaupt möglich, in atemberaubender Geschwindigkeit an etablierten Unternehmen vorbeizuziehen. Der Wert von Tesla übersteigt heute den Wert aller deutschen Automobilhersteller zusammen um ein Vielfaches.

Chancen schnell nutzen

Für die Akteure der Agrar- und Ernährungsindustrie erscheint es daher sinnvoll, die anstehenden Änderungen weniger als Bedrohung und vielmehr als Chance zu verstehen. Entsprechend geht es nicht darum, an Bestehendem festzuhalten, sondern bereits jetzt nach Möglichkeiten zu suchen, wie man Teil der Zukunft werden kann. Warum sollte etwa das Nährmedium nicht von der deutschen Landwirtschaft erzeugt werden? Oder warum sollten Genossenschaften nicht in Bioreaktoren investieren, in denen das Fleisch gezüchtet wird? Es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, in denen Akteure der heimischen Industrie ihr Wissen und ihre Kompetenzen einbringen können. Allerdings ist zu betonen, dass das Zeitfenster hierfür nicht ewig offen ist.

Es ist ein Merkmal von radikalen Innovationen, dass sie sich nicht kontinuierlich und langsam ausbreiten, sondern sprunghaft und schnell. Entsprechend gehört es zu den möglichen Szenarien, dass bereits im Jahr 2030 das weltweit größte Unternehmen der Fleischindustrie seine Produkte ausschließlich im Labor herstellt und damit ohne Tiere auskommt. Dass eine solche Prognose ernst zu nehmen ist, zeigt der Siegeszug der Smartphones, welcher gewissermaßen mit der Einführung des ersten iPhones im Jahr 2007 begann. Es ist damit noch gar nicht so lange her, dass unsere Mobiltelefone winzige Bildschirme hatten und ohne Internetverbindung auskommen mussten. In diesem Kontext sei an das Unternehmen Nokia erinnert, welches 2007 der mit Abstand weltweit größte und erfolgreichste Anbieter von Mobiltelefonen war. Nokia ist ein klassisches Beispiel für die Konsequenzen unzureichender Veränderungsbereitschaft.

FAZIT: Pflanzliche Fleischersatzprodukte und besonders kultiviertes Fleisch aus dem Labor drohen Fleisch tierischen Ursprungs zu verdrängen. Für Landwirte scheint es nicht die schlechteste Option zu sein, die aktuell schwierige Situation zum Anlass zu nehmen, um sich mit alternativen Geschäftsmodellen zu beschäftigen. Falls es hierfür noch eines weiteren Inputs bedarf, so sei zum Abschluss noch folgende Information gegeben: Am 2. Dezember 2020 hat Singapur als weltweit erstes Land eine Zulassung für kultiviertes Fleisch erteilt. Spätestens jetzt ist Fleisch aus dem Labor kein Science-Fiction mehr, sondern Realität.