Auf dem Weg zum Deutschen Holstein
Von der Milchrindzucht während der DDR-Mangelwirtschaft, Erfolgen nach 30 Jahren Mauerfall und neuen Herausforderungen – beispielsweise mit mehr spezialisierter Züchtung für die verschiedenen Produktionssysteme.
Der Unterschied hätte 1990 kaum größer sein können: Im Osten die zentralistisch-diktatorisch gelenkte Milchrindzucht der DDR, im Westen die bäuerliche Holsteinzucht. Konkret: In der BRD erfolgte die Holsteinisierung der Schwarzbunten zum Deutschen Holstein (DH), in der DDR widmete man sich der In-sich-Züchtung eines jerseyblütigen Zweinutzungsrindes, dem Schwarzbunten Milchrind (SMR). Doch nach 30 Jahren aktiver Holsteinzucht hat man im Osten nicht nur den bloßen Anschluss an das internationale Niveau geschafft. Spitzengenetik ist verfügbar und die Milchkuhherden melken auf Rekordniveau. Doch das reicht nicht.
Zwangsauflösung von Zuchtverbänden
Bereits unmittelbar nach dem Mauerfall 1989 begannen einige Rinderzüchter mit der Wiederbelebung der liquidierten bäuerlichen Rinderzuchtverbände der DDR. Zuvor hatten bereits ehemalige erfolgreiche Zuchtleiter und Praktiker, die als Rentner bei ihren „Westbesuchen“ regelmäßig Rinderzuchtveranstaltungen in der BRD besuchten, enge Kontakte zu bäuerlichen Züchtern im Westen geknüpft. So versorgte Kurt Mückenheim, langjähriger Zuchtleiter für Rinder im Bezirk Halle/Saale, die sächsisch-anhaltischen Züchter, die nicht zu den DDR-Führungskadern gehörten, regelmäßig mit aktuellen Daten und förderte so damals schon einen intensiven Gedankenaustausch.
Bedauerlicherweise findet man in der speziellen Literatur zur neueren Tierzuchtgeschichte der DDR selten etwas über die Zwangskollektivierung bäuerlicher Zuchten, Zwangsauflösung von bäuerlichen Zuchtverbänden beziehungsweise Verfolgung und Vertreibung von Rinderzüchtern aus der DDR. Auch zur vollständigen, zentralistisch organisierten Liquidierung des Harzer Rotviehs – gegen den Willen ihrer damaligen Züchter und Halter – findet man kaum etwas. Glücklichweise gehört das Harzer Rotvieh nun wieder zu den geförderten Rassen sowohl in Sachsen-Anhalt als auch in Niedersachsen.
Gewaltiger Umwandlungsprozess im Osten
Mit dem Mauerfall vor 30 Jahren begann für die Landwirtschaft im Osten ein gewaltiger Umwandlungsprozess. Die in der DDR praktizierte, völlig sinnlose organisatorische Trennung der Tier- und Pflanzenproduktion war vor allem für die tierische Erzeugung sehr nachteilig. Dazu kamen marode Stallgebäude und Melkanlagen sowie ein permanenter Futtermangel. Von Letzterem waren vor allem die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) betroffen. Die zentral geleiteten staatlichen Volkseigenen Güter (VEG) Tierzucht und industrielle Anlagen der Tierproduktion wurden wesentlich besser mit Kraftfutter und Technik versorgt. Oft ersetzten somit bei der Zuchtwahl beim Milchrind die Kalorien die Gene. Diese Mangelwirtschaft führte leider auch zu Verwerfungen in der gesamten Rinderzucht. (Leider findet man dazu in der zweiteiligen Broschüre „Tierzucht in der DDR“, Herausgeber: J. Wolf, S. Zelfel und Co., wiederum nichts.)
Mit diesen Voraussetzungen standen Landwirtschaftsbetriebe als auch die Politiker 1990 vor Entscheidungen, die einem Balanceakt glichen: Einerseits sollten für diejenigen, die ihre Flächen und Inventarbeiträge aus der LPG zurücknehmen und den Aufbau eines eigenen Betriebes wagen wollten, geeignete Regelungen und Förderungen getroffen werden. Andererseits befürchtete man eine chaotische Auflösung regionaler Agrarstrukturen. Deshalb sollten auch die LPG eine Chance bekommen. Sie sollten sich umwandeln können, zum Beispiel in eine e. G. (eingetragene Genossenschaft). Darüber hinaus gab es noch die privaten Kapitalanleger aus dem Westen, die vor allem landwirtschaftliche Flächen erwerben wollten. Für die Milchviehzucht stellte sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 vor allem die Frage nach der genetischen Differenziertheit des ostdeutschen SMR gegenüber dem DH der alten Bundesländer.
Fakt ist, die holsteinisierten Schwarzbuntkühe in Westdeutschland waren – basierend auf dem einheitlich gewählten Geburtsjahrgang 1985 – den SMR-Kühen um circa 500 kg Milch, 17 kg Milchfett und 11 kg Milcheiweiß überlegen (Auswertung, Vit Verden, 1995). Die Einkreuzung von Holstein-Rindern in die vorhandene SMR-Milchrindpopulation wurde nach 1990 die dominierende Zuchtpraxis in Ostdeutschland. Allerdings hatten das schon einige Praktiker vor der Wende für dringend notwendig gehalten. Die Schwierigkeiten der ersten Jahre sind heute weitgehend überwunden. Mit einem enormen Durchhaltewillen und Fleiß wurden vielerorts beeindruckende Betriebe aufgebaut, die heute zweifellos zu den modernsten und leistungsfähigsten in Europa zählen. Moderne, helle und tierfreundliche Laufställe für Milchkühe gehören heute in Ostdeutschland zum Standard.
Die enormen Leistungen der zwischenzeitlich konsequent holsteinisierten Milchkühe sichern eine größere Milcheiweißerzeugung – trotz der deutlich reduzierten Tierbestände. Denn gab es Ende 1990 in Ostdeutschland noch rund 1,6 Millionen Kühe, hatte sich der Kuhbestand bis 2018 halbiert. Die gegenwärtig erreichte Milchleistung belegt inzwischen ein außerordentlich hohes Produktionsniveau im Osten. Seit dem Mauerfall hat sich die Milchleistung mehr als verdoppelt und ist heute durchschnittlich deutlich höher als in Westdeutschland. Vergleicht man die gegenwärtigen Leistungen mit den Spitzenherden der DDR 1988, so sieht man eine deutliche Steigerung (Tabelle). Das wurde unter veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erreicht. Zu denen gehören:
- unternehmerisches Handeln und Denken in den landwirtschaftlichen Betrieben,
- Wegfall der zentralistischen Plan-/Mangelwirtschaft,
- konsequente Schaffung eines hohen Kuhkomforts.
Wirtschaftliche Allianzen – in Form kooperierender Zusammenschlüsse von Zuchtverbänden in den verschiedenen Ländern/Regionen – mit dem Ziel des regelmäßigen Austausches bester Bullen beziehungsweise der Bündelung von Exportaktivitäten (Spermaexport) sind richtige Ansätze zur weiteren Verknüpfung der gemeinsamen Zuchtarbeit beim DH in den westlichen und östlichen Bundesländern. Der sächsische und der brandenburgische Rinderzuchtverband arbeiten seit Jahren mit dem Hannoverschen Rinderzuchtverband zusammen. Die Thüringer haben ein gemeinsames Zuchtprogramm mit ihren hessischen Nachbarn organisiert. Und die sächsisch-anhaltischen Züchter gingen sehr schnell eine Allianz mit ihren nördlichen Nachbarn in Mecklenburg-Vorpommern sowie in Schleswig-Holstein ein, um der flächendeckenden Abnahme ihrer Mitgliedsbetriebe zu begegnen.
Leidenschaft und Zuchtbegeisterung reichen aber längst nicht mehr aus, Freude an der Arbeit mit Milchkühen generationsübergreifend sicherzustellen. Marktanalysen bestätigen immer wieder starke Preisschwankungen, denen der Milchpreis zwischenzeitlich unterliegt. Dazu kommen stetig steigende Kosten, beispielsweise für die Flächenbeschaffung, Arbeitserledigung oder Energie. Bei mittleren Produktionskosten von über ≥38 ct/kg Milch kommen viele Betriebe auf Dauer mit Milchpreisen von ≤33 ct/kg Milch nicht zurecht und steigen aus der Milchproduktion aus. Vor allem wenn größere Investitionen anstehen und/oder ein Generationswechsel im landwirtschaftlichen Betrieb stattfindet, wird die Fortführung der Milchrinderzucht betriebsintern hinterfragt.
Es fehlen alternative Vermarktungsformen
Zusätzlich wurde in den östlichen Ländern versäumt, alternative Vermarktungsformen im Hochpreissegment (wie Biomilch- oder Weidemilcherzeugung, regionale Käsesorten, regionale Joghurtprodukte etc.) aufzubauen, obwohl kaufkräftige urbane Zentren (Berlin, Leipzig, Dresden, Jena etc.) zu versorgen sind. Beispielsweise produziert Bayern fast die Hälfte der ökologischen Milch in Deutschland. Obwohl der Biomarkt stetig wächst, erfährt er in Ostdeutschland jedoch ein Nischendasein. Inzwischen ist sogar der relative Anteil der konventionell erzeugten Milch im Osten im Vergleich zum Westen abnehmend. Hier gilt es, endlich durch gezielte Fördermaßnahmen gegenzuhalten, um letztlich eine ausreichende Wirtschaftskraft in den ländlichen Regionen sicherzustellen. Die Holstein-Züchter sind längst neu gefordert. Es genügt eben nicht, den Zukauf der benötigten Besamungsbullen aus den Altbundesländern oder den USA zu organisieren.
Gut bekannt ist, dass das Zuchtziel in Abhängigkeit vom Produktionssystem zu organisieren ist, egal ob in Ost oder West. Die Anforderungen beispielsweise an Milchkühe in den sehr großen Kuhbeständen sind nachweislich andere als im kleinen Familienbetrieb, in dem der Familien-Opa die Brunsterkennung (noch) sicherstellt. In der Bio- oder Weidemilcherzeugung sind wiederum andere Genotypen gefragt als in der Billigmilcherzeugung. Analysiert man die Milchqualitäten in Ostdeutschland im Vergleich zu Gesamt-Deutschland, so zeigen sich – auf Basis des Milchzellgehaltes als leicht erfassbarer Eutergesundheitsindikator – leider immer noch Schwächen. Mit einer gezielten Bullenauswahl kann bekanntermaßen ein guter Einfluss auf funktionelle Merkmale genommen werden.
Man muss es allerdings tun und nicht immer nur die Bullenauswahl nach den Maßstäben in den Altbundesländern gestalten. Dr. Karl Ross hatte bereits Anfang der 1970er-Jahre belegt, dass es in der Milchrinderzucht (innerhalb der Rasse!) Genotyp-Umwelt-Interaktionen gibt. Hoffentlich entdecken nun auch die Zuchtverantwortlichen in ihrer gemeinsamen Arbeit in Ost und West, dass solche Effekte innerhalb der Holstein-Rasse vorteilhaft genutzt werden sollten. Im Interesse der Kunden, der Milchbauern und im Interesse der Wirtschaftskraft im ländlichen Raum! Prof. Dr. Wilfried Brade
FAZIT
Ab 1990 wurde in Ostdeutschland eine moderne, tiergerechte Milchkuhhaltung aufgebaut. Dafür etablierte man effiziente Zuchtprogramme mit Holstein-Rindern und beendet das separate SMR-Zuchtprogramm. Die Erfolge spiegeln sich zum Beispiel in der hohen Milchleistung wider. Doch der zunehmende Kostendruck und die Wünsche der Verbraucher zwingen dazu, die züchterischen Ansätze mehr den verschiedenen Produktionssystemen anzupassen. Ein einheitlicher Gesamtzuchtwert (RZG) für alle Holstein-Rinder im Bundesgebiet entspricht schon lange nicht mehr der Realität, da die Ansprüche an Milchkühe in unterschiedlichen Produktionssystemen eben unterschiedlich und nicht gleich sind.