Milchviehhaltung: Normen im Kuhparadies
Wie erlebt eine Wiedereinsteigerin in die Milchviehhaltung die tägliche Stallarbeit? Susanne Gnauk, ehemalige Redakteurin der Bauernzeitung, berichtet über ihr neues Berufsleben. Teil 2: Über kreative Träume an der Kuhkoppel und den trägen Amtsschimmel, der sich immer schwerer auf Landwirtsgemüter legt.
Von Susanne Gnauk, Landboden Wolde
Zum Herrentag ist mein Nachbar zünftig mit der Harley vom Hof geknattert. Männertag light in Coronazeiten, Kremser oder große Bikergruppen sind an unserem Hof dieses Jahr indes nicht vorbeigefahren. Hier, auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern, werden Traditionen noch gepflegt, aktuell so gut es eben geht. Mein älterer Arbeitskollege, mit dem ich gerade in der Nachtschicht die Kühe melke, berichtet, dass sie früher zum Herrentag sogar ein Pferd mit in die Kneipe genommen haben, auf dem die Betrunkenen dann reiten wollten. Ist der Herren- oder Vatertag deutsches Brauchtum? Die Frage beschäftigt mich für diese Kuhstallgeschichte.
Herren- oder Vatertag: die landwirtschaft kennt keine feiertage
Laut Wikipedia wurde die heutige Form des Vatertagfeierns Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin und Umgebung vermutlich von Brauereiunternehmen ins Leben gerufen. Weiter heißt es, „im stärker atheistisch geprägten Ostdeutschland wird er auch als Herrentag oder Männertag bezeichnet, wobei im Brauchtum statt religiöser Inhalte oft die Herrentagspartie im Vordergrund steht“.
Es regnet, ausgerechnet zum Herrentag. Ist mir aber gleich. Die Erde braucht Regen, die Ackerbauern dürfte es freuen, auch wenn der April zu kühl war. In der Landwirtschaft gibt es bekanntlich keine Feiertage, und ich stecke gerade sowieso in der Arbeitsfalle, die für meine Kollegen längst Normalität ist. Kündigung und Krankschreibung machen die Lage nicht besser. Der für mich ungewohnte Wechsel zwischen Tag- und Nachtschicht haut in mein Schlafkonto hinein. Aber die Tiere fragen nicht danach, sie wollen auch nachts oder zum Feiertag fressen und gemolken werden.
„Bitte frage Deinen Arzt, ob diese Übung für Dich geeignet ist“
Ich nutze die Zeit zwischen den Schichten zum Entspannen, bei Regen gerne mit einem guten basischen Kräutertee. Auf der Teepackung wird in gesalbten Worten die Gebetshaltung empfohlen: „Sitze im Schneidersitz mit gerader Wirbelsäule und lege beide Hände in der Mitte der Brust mit sanftem Druck aufeinander.“ Mond- und Sonnenenergie würden dann in Einklang gebracht. Könnte ich doch glatt einmal ausprobieren.
Abrupt endet der sanfte Text mit dem Satz: „Bitte frage Deinen Arzt, ob diese Übung für Dich geeignet ist.“ Wie ernüchternd. Was wohl meine Hausärztin sagt, wenn ich sie fragen würde, ob ich die Gebetshaltung einnehmen darf? Vielleicht sollte ich Sandra, meine Chefin, anrufen und sagen, ich könne heute leider nicht in die Nachtschicht, diese Übung würde mein Arzt bestimmt für ungeeignet halten.
Wenn mich meine mexikanische Freundin Laura jetzt fragen würde, was typisch deutsch ist, würde ich ihr den Satz auf der Teepackung vorlesen: „Bitte frage Deinen Arzt, ob diese Übung für Dich geeignet ist.“ Den Satz sollte man viel öfter verwenden, er sollte vor allem über Steuererklärungen und Amtsformularen stehen, finde ich.
Vom Redaktionsbüro in den Kuhstall
Susanne Gnauk war über 20 Jahre als Fachredakteurin für die Bauernzeitung und die DGS – Magazin für die Geflügelwirtschaft – dessen Redaktion sie bis 2020 leitete, tätig. In diesem Jahr nahm sie das Arbeitsangebot, das ihr die Landboden Wolde GmbH & Co. Landwirtschafts KG unterbreitete an und ging zurück zu ihren beruflichen Wurzeln: der Milchviehhaltung.
Gras ist für die Kühe wie Schokolade
Neulich habe ich mit unserer Betriebsleiterin Marion Dorn zu Mittag gegessen. Enthusiastisch unterbreitete ich ihr eine Idee, die meine Kollegin und ich auf der Arbeit leidenschaftlich ausgeschmückt hatten, als wir bei schönstem Sonnenschein an unserer Kuhkoppel für die Trockensteher Mittagspause machten. Es war das Highlight des Tages. Nichts entspannt mehr, als den Rindviechern beim Wiederkauen und Grasen zuzusehen. Rupf, rupf, rupf, ein bisschen gehen und wieder rupf, rupf, rupf – unsere Kühe hauen rein, als ob sie das ganze Jahr nix zu fressen bekommen hätten.
Das Rinderparadies ist eine grüne Wiese, die Tiere drehen schier durch, wenn sie nur Gras sehen. Das muss wie Schokolade für sie sein. Neben unserem Treibegang zum Melkstand wächst auf den Freiflächen ebenfalls Gras, und die vierbeinigen Milcherzeugerinnen verweilen hier gern. Sie starren dann wie gebannt auf die Grünfläche und versuchen mit langen Hälsen die Grashalme zu erreichen. Sie dürfen auf die Weide – aber eben erst, wenn sie in den Urlaub gehen, wie unsere Herdenmanagerin Sandra Dorn immer so schön sagt, sprich, wenn sie trockengestellt werden. Weide für alle Kühe ist Luxus, den wir erstens nicht haben und uns zweitens nicht leisten können – wobei mit Milch schon seit geraumer Zeit realistisch gerechnet nicht einmal der in Deutschland vorgeschriebene Mindestlohn erwirtschaftet wird.
Galoppsprünge als Touristenattraktion?
Aber zurück zum Kuhparadies: Wenn unsere Trockensteher und Jungrinder im Frühjahr das erste Mal auf die Weide kommen, werden in ihnen bestimmt ähnlich euphorische Gefühle ausgelöst wie in mir, wenn ich mich bei den ersten warmen Sonnenstrahlen im Jahr auf mein nur knapp acht Kilo schweres Rennrad schwinge und dieses unglaubliche Gefühl der an Schwerelosigkeit grenzenden Leichtigkeit genieße (solange ich Rückenwind habe).
Die Kühe absolvieren jedenfalls Galoppsprünge der puren Freude auf dem satten Grün. Beim ersten Weidegang in diesem Jahr ist Leitkuh 273 wie ein Gummiball herumgesprungen, hoch und runter, hoch und runter. Aufgenommen als Video hätte das bestimmt einen einträglichen Like-Gewinn auf Social Media eingebracht.
Meine Kollegin und ich entwickelten jedenfalls folgende Idee: Hier am Rande der Koppel könnten wir doch ein Podest errichten mit Sonnenschirm, Tisch und Stühlen für vorbeiradelnde Touristen und so gleich Werbung für die heimische Milchwirtschaft machen. Auf diesem Platz an der Koppel würden die Betriebsabläufe nicht gestört, Ställe oder Treibewege müssten dafür nicht einmal betreten werden. Und wenn wir Zeit hätten, könnten wir durch die Ställe führen.
Unsere Betriebsleiterin nahm mir aber gleich den Wind aus den Segeln: Sie freue sich schon, was das Veterinäramt dazu sagen würde – Betriebsfremde auf dem Gelände! Dann seufzte sie und meinte: „Deutschland schafft sich selbst ab!“ Wie ein Wasserfall kam es aus ihr herausgeschossen, Auflagen hier, Auflagen da, es würden immer mehr. Ihr zuzuhören, kann einem echt die Lust auf Landwirtschaft nehmen. Dabei ist Marion Dorn ihr Leben lang Landwirtin mit Leib und Seele, sie steckt voller kreativer Ideen für den Betrieb. Der Amtsschimmel legt sich jedoch immer schwerer auf Landwirtsgemüter. Und wie viel Unsinn dabei ist. Das ist ein Thema, das ich mir noch einmal extra vornehmen werde.
WAS MACHT EIGENTLICH LUZIFER?
„Luzifer mag keine Bananenmilch“, schrieb Susanne Gnauk in ihrer ersten Kuhstallgeschichte in Ausgabe 14 der Bauernzeitung. Was steckt dahinter? Bullenkalb Luzifer, eigensinnig wie seine Mutter, verweigerte die Nahrung, wurde von Tag zu Tag schwächer, und die Mitarbeiter der Landboden Wolde GmbH & Co. Landwirtschafts KG zogen alle Register, um das kleine Bullenkalb zu retten. Sie schafften es – zwar nicht mit Kälbermilch, die Bananenaroma enthält, sondern mit Vollmilch. Und siehe da, Luzifer rappelte sich auf und wurde schnell zum Star auf dem Hof. Und was ist seither passiert? Susanne Gnauk schreibt uns dazu:
„Luzifer und seine Halbschwester – sie haben beide dieselben Vatergene – rocken immer noch den Kindergarten. Sie sind gut gewachsen, nun knapp drei Monate alt und können bald in den Jungrinderstall umgestallt werden. Luzifer ist mittlerweile kastriert. War Luzifers Schwester anfangs noch sehr scheu, sind beide mittlerweile sehr anhänglich. In der Nachtschicht habe ich stets, wenn ich im Kälberdorf nach dem Rechten schaue, ein braunes Kalb links und ein weiteres rechts – sie weichen nicht mehr von meiner Seite. Dann machen sie den Hals ganz lang und lassen sich darunter kraulen. Sie fangen auch schon an, mich zu stoßen. Ein spielerischer Test der Rangfolge? Ich muss aufpassen, dass ich beide nicht zu sehr verwöhne.“
Gnadenbrot für Kuh 27
Ich stecke voller Geschichten von Kühen und Kälbern, und folgende von unserer „Dienstältesten“ passt zum Kuhparadies: Elf Jahre hat die 27 auf dem Buckel. Nach einer Rempelei mit anderen Kühen grätschte sie ausgerechnet in der Nachtschicht auf dem Weg zum Melkstand so schwer, dass sie nicht wieder aufstehen konnte, auch nicht mit sogenannten Fußfesseln um die Hinterbeine als Gehhilfe. Herdenmanagerin Sandra und ein Kollege, unser „Mann für alles“, den wir nachts aus dem Bett telefonierten – für beide übrigens Normalität, 24 Stunden lang in Rufbereitschaft zu sein – haben die betagte Kuhdame dann mit Radlader und Beckenzange ganz vorsichtig hochgehoben und auf eine ein paar Meter entfernte Koppel transportiert. Das klingt so einfach, aber wir litten und bangten mit der Kuh, und ich bewunderte meine Kollegen und vor allem Sandra, wie ruhig sie das alles gemanagt haben.
Rechts: Diese betagte Kuhdame hat sich nach einem Sturz erholt und läuft wieder in der Herde mit.
(c) Susanne Gnauk
Was die 27 dabei gefühlt hat, ist schwer zu beschreiben, sie ließ jedenfalls alles ziemlich ruhig mit sich geschehen. Schwebend in der Luft sah sie aus wie ein Kunstobjekt. Kaum berührte ihr Maul aber Gras, gab es kein Halten mehr. Noch mit den Beinen in der Luft fing sie an, die Halme abzurupfen. Nun steht sie auf einer kleinen Weidekoppel, kann wieder gehen und wurde kürzlich sogar wieder in die Herde gebracht. Sandra hat auch beschlossen, dass sie bei uns ihr Gnadenbrot bekommt. Das habe sie sich mehr als verdient.
Ich empfehle, einmal länger an einer Kuhkoppel zu verweilen und Kühen beim Grasen zuzuschauen. Vielleicht sogar in Gebetshaltung – aber dazu sollten Sie vorher Ihre Ärztin oder Ihren Arzt konsultieren.
„Geschichten aus dem Kuhstall“
Wie erlebt eine Wiedereinsteigerin in die Milchviehhaltung die tägliche Stallarbeit? Susanne Gnauk, ehemalige Redakteurin der Bauernzeitung, berichtet künftig in loser Folge über ihr neues Berufsleben. Teil 1: Luzifer, das Bullenkalb, das keine Bananenmilch mag. Mehr
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