Rindermedizin: Ein Tag mit Dr. Sabine

Unterwegs mit Tierärztin Dr. Julia Sabine Francke, alias Dr. Sabine vom Instagram-Account @Rindermedizin (c) Sabine Rübensaat
Tierhaltung
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Sie hatte nicht zu viel versprochen: Im Landwirtschaftsbetrieb Griepentrog in Steinhagen erlebten wir, wie für Tierärztin Dr. Julia Francke ein Arbeitstag „mit vollem Programm“ aussieht.

Von Gerd Rinas

Als wir uns an diesem Donnerstagmorgen in der Tierarztpraxis in der Neuen Bahnhofsstraße in Bützow treffen, hat Tierärztin Dr. Julia Sabine Francke, alias Dr. Sabine vom Instagram-Account @Rindermedizin, ihren ersten Notfalleinsatz schon hinter sich: In einem Milchviehbetrieb war eine Kuh ausgegrätscht und hatte sich so schwer verletzt, dass sie schmerzlos eingeschläfert werden musste. „Manchmal können auch wir nicht helfen“, sagt die Tierärztin nachdenklich.

Seit mehr als sechs Jahren arbeitet Julia Francke in der Tierarztpraxis von Dr. Uwe Reinicke. Behandelt werden hier praktisch alle Haus- und landwirtschaftlichen Nutztierrassen. Spezialisiert haben sich Reinicke und sein Team auf Rinder.

Seit anderthalb Jahren veröffentlicht Julia Francke mit zwei Berufskollegen, Freunden aus Studienzeiten, auf dem Instagram-Account @Rindermedizin pointierte Fachbeiträge, die auf großes Interesse stoßen. Wir wollen ihr einen Tag lang bei der Arbeit in einem Milchviehbetrieb über die Schulter schauen. „Einen Arbeitskittel habe ich für Sie. Haben Sie Stiefel dabei?“, fragt Francke. Als ich bejahe, fahren wir los.

09:10 Uhr

Unser Ziel ist der Landwirtschaftsbetrieb Griepentrog KG in Steinhagen, knapp zehn Kilometer von Bützow entfernt im Landkreis Rostock. In dem Unternehmen mit 55 Mitarbeitern, davon 27 in der Tierhaltung, erwartet uns Herdenmanager Sascha Kiekbusch.
In Steinhagen stehen 1.600 melkende Kühe in einer 1.930er-Milchviehanlage. Sie wurde 1976 eröffnet und in den vergangenen Jahren immer wieder modernisiert. Die durchschnittliche Milchleistung betrug zuletzt 12.950 kg (3,88 % Fett, 3,46 % Eiweiß) pro Kuh und Jahr. Im Betrieb gaben bisher 63 Kühe 100.000 l Milch und mehr, berichtet Kiekbusch.

„Die Tiergesundheit spielt in Steinhagen eine große Rolle. Der Betrieb legt viel Wert auf Prophylaxe. Einzeltierbehandlung wird hier noch großgeschrieben“, sagt Tierärztin Francke. Sie oder ein Kollege sind jeden Tag in der Anlage. Das Unternehmen wurde nach der Wende von Klaus Griepentrog und seinen Mitarbeitern aus einer LPG aufgebaut. Schon seit Jahren zählt es bundesweit zu den leistungsstärksten Milchviehbetrieben. Mittlerweile wird es von den beiden Griepentrog-Söhnen Andy und Silvio geführt.

„Wir stehen vor den gleichen Problemen wie viele andere Milchproduzenten in Deutschland: Unsere Flächen liegen zu einhundert Prozent im roten Gebiet, 15 Prozent in FFH-Gebieten. Auch hier drohen Einschränkungen“, geht Kiekbusch kurz auf die aktuelle Lage ein. Dr. Sabine schaut auf die Uhr. „Im Stall wartet man auf uns. Wir haben ein volles Programm“, mahnt die Tierärztin.

18 Kühe sollen ihr heute vorgestellt werden. Danach will sie drei Wochen alte Kälber gegen Rindergrippe impfen. Ihre Behandlung ist in den Tagesablauf im Stall genau eingepasst. „Verspäten dürfen wir uns nicht, sonst kommt alles durcheinander. Bis 13.30 Uhr müssen wir mit den Kühen durch sein.“ Der Treibegang, in dem jetzt die kranken Tiere warten, muss dann wieder frei sein für die Kühe, die zum Melken gehen.

09:50 Uhr

Im Stall ist es angenehm kühl. Für die Wohlfühlatmosphäre sorgen über 60 temperaturgesteuerte Lüfter. Repromeister Enrico Laube hat alles für die Arztsprechstunde vorbereitet: Die Kühe, die untersucht werden sollen, sind selektiert, der Reprobereich ist empfangsbereit. Auf einem kleinen Tisch stellt die Tierärztin ihre Tasche ab und legt Instrumente bereit. Schon wird die erste Patientin in den Behandlungsstand geführt. Francke und Laube sind ein eingespieltes Team. Kurz informiert der Repromeister die Tierärztin über die Krankengeschichte der Kuh. Genauso konzentriert gibt Francke nach der Untersuchung ihre Anweisungen.

Am Morgen hatte Karussellmeister Rüdiger Bissa Bescheid gegeben, dass das Euter der Kuh Nr. 7841 rot verfärbt und geschwollen ist. Dr. Sabine schaut das Tier von allen Seiten und vor allem das Euter an, misst Fieber, hört mit dem Stethoskop in die Kuh hinein, begutachtet das Probegemelk und stellt schließlich eine Euterentzündung fest. Die Kuh bekommt eine Infusion und wird außerdem „gedrencht“: Ihr werden 40 Liter Flüssigkeit mit Pansenstimulanzien, Hefe und Elektrolyten verabreicht, damit Toxine ausgeschwemmt und ihre Fresslust angeregt werden. Danach dokumentiert die Ärztin die Tierdaten, verabreichte Medikamente und Sperrzeit.

Eine erkrankte Kuh versperrt den  Treibegang. Was tun? Repromeister Enrico Laube und Tierärztin  Julia Francke fanden eine Lösung  für das Problem.
Eine erkrankte Kuh versperrt den Treibegang. Was tun? Repromeister Enrico Laube und Tierärztin Julia Francke fanden eine Lösung für das Problem. (c) Sabine Rübensaat

Eine Kuh nach der anderen betritt den Behandlungsstand: Tierärztin Francke diagnostiziert verschiedenste Erkrankungen: Entzündungen des Euters und der Gebärmutter, eine Lungen- und eine Bindehautentzündung. Von einer Kuh musste nach einer Verletzung der Schwanz auf halber Länge amputiert werden. „Im Schwanz verläuft das Rückenmark. Bei einer Infektion kann es zu Lähmungen in der Hinterhand kommen.“ Die Tierärztin reinigt die Wunde und schützt sie mit einem Verband.

Bei einer anderen Kuh hat sich der Schenkelspalt entzündet. „Zwei, drei Tage, bevor das Kalb kommt und die Milch noch nicht abgerufen wird, eutern Kühe auf. Besonders bei Erstkalbinnen reibt das Euter an den Innenschenkeln. Ich reinige und behandle die Flächen mit Zinksalbe und beobachte, ob die Entzündung nach dem Kalben, wenn das Euter sich leert, zurückgeht“, erläutert die Tierärztin.

Im Behandlungsstand ist Dr. Sabine in ihrem Element: Immer in Bewegung, mit den Augen überall und in der Behandlungstechnik gern auch mal unkonventionell: Bei der Rektaluntersuchung steht sie breitbeinig auf einer Sprosse des Behandlungsstands: „So hab ich den besten Zugriff“, lacht die 36-Jährige, die in dem hessischen Städtchen Bad Sooden-Allendorf aufgewachsen ist.

Arbeiten Hand in Hand: Während Julia Francke eine Infusion  verabreicht, fi xiert Enrico Laube  die tierische Patientin.
Arbeiten Hand in Hand: Während Julia Francke eine Infusion verabreicht, fixiert Enrico Laube die tierische Patientin. (c) Sabine Rübensaat

Sie schätzt es, ihre Patienten „mit allen Sinnen“ zu untersuchen: „Anfassen, tasten, riechen, sehen, hören – die klinische Untersuchung ist immer noch die Basis, bei allen Fortschritten der Gerätemedizin und den Vorteilen, die sie bietet“, meint Francke, die an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover studiert und in den Praktika dort ihr Herz an die Rinder verloren hat: „Sie sind die perfekten Patienten, aufmerksam, ruhig und leidensfähig. Letzteres wird ihnen manchmal aber zum Verhängnis“, hat Julia Francke herausgefunden.

Einmal werden Dr. Sabine und Repromeister an diesem Vormittag unruhig: Eine große, schwere Kuh liegt plötzlich mitten im Treibegang und versperrt den Weg, den die Kühe in etwa einer Stunde zum Melken nehmen müssen. Was tun? Für Technik, etwa einen Radlader, um die Kuh zu transportieren, fehlt der Platz: Über dem Treibegang läuft das Futterband. Julia Francke unterbricht schließlich ihre Arbeit und eilt herüber zu dem Tier, das nicht mehr stehen will. Sie geht um das Rind herum, beobachtet es und entscheidet dann, eine Infusion und Schmerzmittel zu verabreichen. Nach 20 Minuten ist die Kuh im sprichwörtlichen Sinn „vom Eis“: Sie steht von alleine auf und findet den Weg ins Krankenabteil.

13:10 Uhr

Alle vorgestellten Milchkühe sind untersucht, Therapien eingeleitet, fortgesetzt oder beendet, Wiedervorstellungen, wenn nötig, festgelegt. Dr. Sabine trägt die fehlenden Angaben in das Behandlungsbuch ein. Danach packt sie ihre Sachen zusammen, verabschiedet sich von Repromeister Laube, um geradewegs ins Freie zu eilen: Gleich neben dem Milchviehstall stehen die Iglus mit den Kälbern.

Vor dem Impfen eines Kalbs: Dr.  Julia Francke und Britta Bischoff.
Vor dem Impfen eines Kalbs: Dr. Julia Francke und Britta Bischoff. (c) Sabine Rübensaat

Um ihre Immunabwehr zu stärken, haben die Kälber schon eine Schutzimpfung mit bestandseigenen, auf das Keimmilieu im Betrieb zugeschnittenen Vakzinen erhalten.
Heute will Julia Francke Kälber gegen Rindergrippe impfen. Bei den jüngsten Rindern haben Britta Bischoff und Britta Becker den Hut auf. „Im Monat kommen zwischen 120 und 130 Abkalbungen. Trotz aller Prophylaxe bleiben Kinderkrankheiten nicht aus. Ein enger Kontakt mit dem Tierarzt ist bei den Kälbern besonders wichtig“, sagt Bischoff. In Steinhagen zahlt sich das aus: Mit 3,5 % liegen die Kälberverluste deutlich unter dem Landesdurchschnitt.

Neugeborene kommen zunächst in Einzelboxen unter die Wärmelampe. Allerdings erst, wenn die Boxen gründlich gemistet, gekärchert, desinfiziert und frisch eingestreut sind. Nach zwei bis drei Wochen beziehen die Kälber in Iglus oder im großen Laufstall Quartier. „In den Iglus füttern wir Müsli, Trockenfutter, zweimal täglich Milchaustauscher und zwischendurch Wasser“, erläutert Britta Bischoff. Im großen Stall gibt es am Automaten Milchaustauscher, dazu Silage, Müsli und Trocken -TMR.

Zwölf bis 14 Wochen nach der Geburt wechseln die Tiere aus dem Kälberabteil in die Jungrinderaufzuchtanlage nach Hof Rühn. Fünf bis sechs Monate verbringen sie auf der Weide, bevor sie als hochtragende Färsen in den Stall kommen. Für Britta Bischoff steht fest, dass die Grundlagen für die Gesundheit der Kälber in der Mutter gelegt werden, wenn die noch als hochtragende Färse auf der Koppel läuft: „Hier stärken sie ihre Immunabwehr und bilden gesunde Klauen aus.“

15:00 Uhr

Pause für Dr. Sabine. Alle drei Wochen alte Kälber sind gegen Rindergrippe geimpft, Herdenmanager Sascha Kiekbusch gibt der Tierärztin einen Kaffee aus.

Doch lange hält es Francke nicht auf ihrem Platz. Um 16 Uhr wird sie im 28 km entfernten Zehlendorf von einer Pferdezüchterin erwartet. Deren Fohlen hatte sich beim Versuch, die Gabel des Pferdeanhängers zu überspringen, eine tiefe Wunde zugezogen, die Julia Francke klammern musste. Heute injiziert sie dem Fohlen ein Schmerzmittel und Entzündungshemmer und deckt die Wunde mit einem Sprühverband ab. Fohlen und Züchterin schauen wieder etwa beruhigter in die Welt.