Interview

Kalkstickstoff als Dünger: Im Visier der Kommissare

Vor allem in der Obst-und Gemüseproduktion wird Kalkstickstoff eingesetzt.
Ackerbau
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Die europäische Chemikalienagentur strebt ein Beschränkungsverfahren für Kalkstickstoff als Dünger an. Sollte sich der neue Bewertungsmaßstab in der EU durchsetzen, könnte es für die mineralische Düngung knapp werden.

Von Erik Pilgermann (Text und Fotos)

Helsinki, wir haben ein Problem. Zugegeben, es ist derzeit eines von vielen. Doch dieses könnte erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft der gesamten Mineraldüngung haben und damit ernsthaft die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Landwirtschaft bedrohen. Die Europäische Chemikalienagentur ECHA mit Sitz im finnischen Helsinki schlägt in einem Beschränkungsdossier vor, die Anwendung von Kalkstickstoff als Düngemittel nach einer Übergangszeit von 36 Monaten zu verbieten, da auf Basis der von der ECHA durchgeführten Bewertung Risiken für Boden- und Wasserorganismen nicht ausgeschlossen werden können.

Ein Totalverbot sei laut ECHA die zielführendste Maßnahme, da sie am einfachsten durchzuführen und zu kontrollieren sei. Differenzierte Auflagen zur Anwendung seien hingegen zu kompliziert, da sie von den ECHA-Inspektoren auf den landwirtschaftlichen Betrieben nicht ausreichend kontrolliert werden können. Überdies wurde unterstellt, Landwirte würden sich ohnehin nicht an dergleichen Auflagen halten.

Nachdem Kalkstickstoff seit mehr als 100 Jahren als Dünger verwendet wird, stellt sich natürlich die Frage, wie die ECHA zu einer solchen Einschätzung kommen kann? Die Antwort: Zum allerersten Mal hat die ECHA mit dem Kalkstickstoff ein Stickstoffdüngemittel nach den Vorgaben der REACH-Verordnung bewertet. Die Bewertung von Umweltrisiken nach REACH soll in der Regel Veränderungen in naturnahen Ökosystemen durch unvermeidbare Belastungen mit Chemikalien wie Emissionen von Stäuben, Gasen oder kontaminierten Abwässern ausschließen.

Experten sagen jedoch, dass die starre Anwendung der REACH-Methodik sich aber nicht eigne, um die absichtliche und gezielte Ausbringung von Mineraldüngern auf den landwirtschaftlich genutzten Böden zu bewerten. Genaugenommen ließen sich bei dieser Vorgehensweise für mehr oder weniger alle Mineraldünger „unkontrollierbare Risiken“ ausweisen. In der Folge müsste ein Verbot auch für deren Anwendung gefordert werden.

Hintergrund

Was ist REACH?

Nach der Chemikalien-VO REACH (engl. Registration, Evaluation, Authorization and Restriction of Chemicals) werden die Umweltrisiken einer Substanz bewertet, indem man ihre ökotoxikologischen Eigenschaften mit der erwarteten Exposition vergleicht. Dazu werden in standardisierten Tests beispielsweise mit Fischen, Wasserflöhen oder Algen die Auswirkungen auf diese Modellorganismen im Labor untersucht.

Dabei wird die maximale Konzentration eines Stoffes im Boden und Wasser ermittelt, bei der keine Effekte mehr auftreten. Dieser sogenannte No-Effect-Level wird dann noch mit einem Sicherheitsfaktor, zum Beispiel 100 versehen. Dies ergibt dann die tolerierbare Konzentration im Boden oder Wasser.

Den Auftakt gab die ECHA mit dem vermeintlich „unbedeutenden“ Dünger Kalkstickstoff. Bei der Annahme des ECHA-Vorschlags durch die EU-Kommission, Kalkstickstoff zu verbieten, würde aber ein Präzedenzfall geschaffen, der einem weitgehenden Verbot der Mineraldünger Tür und Tor öffnen könnte. Zwar mahlen die Mühlen langsam auf europäischer Ebene, doch nicht immer ist klar, wer die Müller sind.

Im Rahmen eines Konsultationsverfahrens wurden bei der ECHA 82 Kommentare aus ganz Europa eingereicht, die sich ohne Ausnahme gegen die Vorgehensweise der ECHA und den Beschränkungsvorschlag richteten. Die vorgebrachten Einwände, Studienergebnisse und Argumente schienen sich aber lange Zeit in keiner erkennbaren Weise auf das Vorgehen der ECHA auszuwirken. Da jedoch die ECHA selbst einräumte, dass der Netto-Effekt eines Kalkstickstoffverbotes für die Umwelt zweifelhaft sei (vor allem wenn stattdessen andere Dünger wie Harnstoff eingesetzt würden), erscheint es äußerst wichtig, dass Landwirte und Anbauverbände noch einmal ihre wirtschaftlichen Nachteile darlegen, die im Falle eines Kalkstickstoff-Verbotes eintreten. Das lässt sich am besten am Beispiel intensiver Kulturen wie Gemüse und Obst darstellen, da hier ein Großteil des Kalkstickstoffs eingesetzt wird. Wir haben zwei Profis aus dem Bereich Sonderkulturen um ihre Einschätzung gebeten.

Herr Embach, welche Bedeutung hat Kalkstickstoff für Sie?
Ich möchte auf Kalkstickstoff nicht verzichten müssen. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass es ein großes Unglück wäre, wenn wir diesen Dünger verlieren würden. Sie müssen wissen, dass wir seit diesem Jahr auch kein Gurkensaatgut mehr beizen dürfen. Gaucho hat keine Zulassung mehr. Für uns ist das Gurkensaatgut aber ein gewaltiger Kostenfaktor, und wir wollen das Saatgut beziehungsweise die Pflänzchen nicht völlig ungeschützt im Feld stehen haben. Wir müssen also alles Mögliche tun, um den Boden gesund zu erhalten.

Heinz-Georg Embach betreibt zusammen mit seinem Sohn den Spreewaldhof Niewitz. Schwerpunkt sind Erdbeeren und Gurken.
Heinz-Georg Embach betreibt zusammen mit seinem Sohn den Spreewaldhof Niewitz. Schwerpunkt sind Erdbeeren und Gurken.

Wie setzen Sie den Dünger ein?
Wir setzen den Dünger auf zwei Arten ein. Zum einen düngen wir flächig. Wir versuchen, rechtzeitig genug vor dem Pflanzen auf die Flächen zu kommen, um einen möglichst großen Effekt auf die Bodenhygiene zu erzielen. Zum anderen arbeiten wir mit dem Prinzip der Reihenstreuung links und rechts von der Folienbahn, in der die Gurkenpflanzen stehen. Kalkstickstoff in der Reihe einzusetzen, hat drei Gründe. Erstens arbeiten wir inzwischen ohne Glyphosat und setzen GPS-gesteuerte Hacktechnik ein. Doch es gibt einen Bereich, wo die Folie in den Boden eingeschlagen ist und den wir mit der Hacke nicht erreichen. Dort applizieren wir den Kalkstickstoff und unterdrücken dort so das Unkraut. Zweitens und besonders wichtig für uns ist die Depotwirkung des Kalkstickstoffs an der Foliengrenze, denn die Gurke wächst genauso oberirdisch wie unterirdisch in die Breite. Ihre Wurzeln wachsen unter der Folie hervor und können, wenn es denn regnet, ihren Nährstoffbedarf aus dem Depot decken. Drittens ist das Ammonium aus dem Kalkstickstoff deutlich verträglicher für die Pflanze, vor allem wenn es zu kalt oder zu nass ist. Ganz entscheidend ist dabei aber, auch die ausreichende Versorgung mit Schwefel sicherzustellen. Wir setzen dafür schwefelsaures Ammoniak ein, da wir davon überzeugt sind, so auch den Aufschluss anderer Nährstoffe positiv zu beeinflussen.

Wie sehen sie die Zukunft des Düngers?
Wenn Sie mich fragen, müsste die Entwicklung beim Kalkstickstoff genau entgegengesetzt verlaufen. Er hat allein über die phytosanitäre Wirkung schon so viel positiven Einfluss auf den Boden und auf die Gesundheit der Gurken. Mit ihm schaffen wir es, den Wegfall der Beize einigermaßen zu kompensieren. Leider ist die Ideologie auf den Entscheidungsebenen der Politik inzwischen so stark. Außerdem scheint es zu diesen Ideologen auch immer die passenden Wissenschaftler zu geben, die jede noch so absurde Ahnung oder Meinung bestätigen. Wenn Sie mich fragen, sind wir an dem Punkt, wo wir als Praktiker nicht mehr diplomatisch sein können. Wir müssen jetzt wachrütteln.

Herr Mich, Sie sind schon lange im Gemüsegeschäft. Welche Bedeutung hat Kalkstickstoff für Sie?
Kurz gesagt, wir wenden schon immer Kalkstickstoff an. Schon mein Vater hat Ende der Fünfziger, noch bevor er in die LPG ging, Kalkstickstoff gestreut. Ich hab 1964 begonnen, Gemüsebau zu lernen und auch da haben wir auf unserer LPG Kalkstickstoff eingesetzt. Wir haben ihn in erster Linie in unseren Kohlkulturen angewandt. Nach meiner Lehre habe ich in der LPG viele Jahre als Techniker gearbeitet und war für die ganzen Beregnungsanlagen, den Pflanzenschutz und die Düngung verantwortlich. Wir haben damals 550 Hektar Gemüseflächen bewirtschaftet. Da hatte ich kaum noch mit der Auswahl der Dünger zu tun. Das wurde meist über die Agrochemischen Zentren geregelt. 1990/91 habe ich mich dann privatisiert. Wir haben dann auch gleich wieder angefangen, in den Gurken vor dem Folie legen Kalkstickstoff zu streuen. Wir haben dann bald gänzlich auf Reihenstreuung umgestellt, was die Effektivität der Düngers noch einmal deutlich erhöht hat.

Reinhard Mich baut hauptsächlich Gurken, Kartoffeln und Meerettich an. Zusammen mit Sohn Marcel betreibt er den Gemüsebaubetrieb Spreewald.
Reinhard Mich baut hauptsächlich Gurken, Kartoffeln und Meerettich an. Zusammen mit Sohn Marcel betreibt er den Gemüsebaubetrieb Spreewald.

In welchen Kulturen setzen Sie den Dünger heute ein?
In diesem Jahr ganz wichtig in Gurken. Auch im Meerrettich kommt er zum Einsatz. Besonders wichtig ist er aber für unsere Kartoffeln. Er wirkt sich absolut positiv auf die Inhaltsstoffe aus. Vor allem aber sind wir davon überzeugt, dass Kalkstickstoff den Geschmack unserer Kartoffeln verbessert. Das bestätigen uns immer wieder unsere Kunden. Wir führen aber auch eigene Kochversuche mit unserer Ernteware durch.

Sie können sich also nur schwer vorstellen, ohne Kalkstickstoff zu wirtschaften?
Für uns ist Kalkstickstoff insgesamt sehr, sehr wichtig. Uns kommen immer mehr Möglichkeiten des Pflanzenschutzes abhanden. Mit Kalkstickstoff haben wir einen Dünger, der nicht nur Nährstoffe in den Boden bringt, sondern auch die Bodengesundheit fördert und darüber hinaus bis zu einem gewissen Grad auch Drahtwürmer vergrämt. Es wäre aus unserer Sicht mehr als fatal, wenn er verboten werden sollte. Zumal er als Dünger langsam und dauerhaft wirkt. Dass der Dünger jetzt aufgrund einer Nebenwirkung verboten werden soll, kann ich einfach nicht nachvollziehen.

Weitreichende Auswirkungen

Das im Raum stehende Kalkstickstoffverbot könnte sich im Übrigen auch weit über die Landwirtschaft hinaus auswirken. Die Alz-Chem Trostberg GmbH ist der einzige Betreiber einer vollständigen NCN-Chemie-Produktionskette außerhalb von China. NCN-Chemie steht dabei für Produkte mit typischer Stickstoff-Kohlenstoff-Stickstoff-Bindung. Nach Unternehmensangaben werde etwa die Hälfte der Kalkstickstoffproduktion zu Spezialchemikalien weiterverarbeitet. Diese seien dann zum Beispiel Grundlage für den Pharmawirkstoff Metformin, ein lebenswichtiges Medikament für etwa 60 Millionen Diabetiker in der EU. Sie sind aber auch essenzieller Bestandteil für Virus- und Antikörpertests. Die Relevanz zeigt sich aktuell unter den Pandemiebedingungen.

Herr Dr. Klasse, inzwischen gab es ein weiteres Konsultationsverfahren. Wie ist es ausgegangen?
Insgesamt wurden erneut 40 Kommentare aus zehn EU-Mitgliedsstaaten dem dem Vereinigten Königreich eingereicht. Alle 40 Kommentare sprechen sich einhellig gegen ein Verbot von Kalkstickstoff aus. Schon bei einer ersten Konsultation zum Inhalt des Beschränkungsdossiers hatten sich 82 Kommentare einmütig gegen die Beschränkung ausgesprochen. Somit hat es während der gesamten öffentlichen Beteiligung keinerlei Unterstützung für ein Kalkstickstoffverbot gegeben. Kein einziger Teilnehmer bestätigte die von ECHA für Kalkstickstoff gesehenen Risiken und niemand erkannte in dem Verbotsvorschlag einen Nutzen für die Umwelt. Zahlreiche Kommentare weisen dagegen auf die hohen finanziellen Einbußen für die Anbauer von Spezialkulturen bei einem Verbot für Kalkstickstoff hin, weil bei Verwendung anderer Stickstoffdünger der Anteil nicht vermarktungsfähiger Ernteprodukte steigt. SEAC hatte diese Kosten offensichtlich stark unterschätzt.

Was oder wer ist die SEAC?
Das ist der Ausschuss für sozioökonomische Analyse der ECHA. Er arbeitet die Stellungnahmen der ECHA zu den sozioökonomischen Auswirkungen möglicher Rechtsvorschriften für Stoffe in den REACH-Prozessen aus. Die endgültigen Entscheidungen werden aber von der Europäischen Kommission getroffen. Nach der Chemikalien-VO REACH werden die Umweltrisiken einer Substanz bewertet, indem ihre ökotoxikologischen Eigenschaften mit der erwarteten Exposition verglichen werden. Dazu werden in standardisierten Tests Auswirkungen auf Modellorganismen im Labor untersucht. Dabei wird die maximale Konzentration eines Stoffes im Boden und Wasser ermittelt, bei der keine Effekte mehr auftreten. Dieser sogenannte „No-Effect-Level“, zum Beispiel 100 Milligramm je Kilogramm Boden, wird dann noch mit einem Sicherheitsfaktor, versehen. Dies ergibt dann die tolerierbare Konzentration je Kilogramm Boden oder Liter Wasser.
Bei der anschließenden Risikobewertung muss die erwartete Konzentration der Substanz im Boden oder Wasser stets kleiner sein, als die tolerierbare Konzentration. Dieser Ansatz hat sich für Chemikalien, welche während der Herstellung, des Transportes oder der Anwendung in der Regel unbeabsichtigt in die Umwelt gelangen, durchaus bewährt, denn dadurch sollen in betroffenen Ökosystemen keine Veränderungen ausgelöst werden.

Dr. Hans-Jürgen Klasse ist bei der AlzChem Trostberg GmbH verantwortlich für Produktsicherheit, Registrierung und Öffentlichkeitsarbeit.
Dr. Hans-Jürgen Klasse ist bei der AlzChem Trostberg GmbH verantwortlich für Produktsicherheit, Registrierung und Öffentlichkeitsarbeit.

Warum ist diese Bewertungsmethode für Düngemittel nicht zielführend?
Während die unbeabsichtigte Freisetzung von Chemikalien meist kontinuierlich und gleichmäßig, dafür aber in geringen Mengen erfolgt, werden bei der Düngung große Mengen, aber dafür nur an wenigen Tagen im Jahr absichtlich auf Zielflächen, also landwirtschaftliche Nutzflächen ausgebracht. Allein aufgrund der kurzfristig hohen Konzentration auf der Bodenoberfläche kommt es dort unvermeidlich durch Salzwirkung und pH-Wert-Veränderungen vorübergehend und lokal begrenzt zu Auswirkungen auf Bodenorganismen. Doch auch längerfristig stellen sich durch den angestrebten Nährstoff- und pH-Effekt Veränderungen bei den Bodenorganismen ein. So weiß man, dass mit steigendem pH-Wert im Boden der Anteil der Pilze unter den Mikroben abnimmt, während die Bakterien zunehmen. Die Auswertung von Dauerversuchen zeigt, dass auf ausgewogen gedüngten Böden ein insgesamt intensiveres Bodenleben herrscht, was sich durch das gesteigerte Nahrungsangebot (mehr Ernterückstände und Wurzelmasse) für die Bodenbewohner erklären lässt. Da aber REACH keine Veränderung toleriert, egal ob sie beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist oder ob sie nur kurzfristig oder dauerhaft auftritt, müssen Düngemittel bei diesem Ansatz zwangsläufig durchs Raster fallen. Mit dieser Einstellung würde man nicht nur jegliche Art der Düngung, sondern bereits auch jede Bodenbearbeitung als inakzeptables Umweltrisiko erachten.

Wie sollten Düngemittel nach Ihrer Meinung eigentlich bewertet werden?
Die Besonderheit von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln besteht in der notwendigen Unterscheidung ihrer Wirkungen auf Zielflächen und Nichtzielflächen. Während bei der Bewertung der Effekte auf Nichtzielflächen der Ansatz von REACH anwendbar scheint, müssen für die Zielflächen angepasste Kriterien gelten. Aus gutem Grund werden daher Pflanzenschutzmittel nicht nach REACH bewertet, sondern haben ein eigenes System, bei dem genau diese Differenzierung erfolgt. Auch die neue EU-Düngeprodukte-Verordnung fordert in der Präambel, dass „die Sicherheit der beabsichtigten Verwendung des EU-Düngeprodukts in einer Weise nachgewiesen wird, die die Vergleichbarkeit mit anderen Regelungen für Produkte ermöglicht, die für die Anwendung auf Ackerböden oder Ernteprodukten bestimmt sind, vor allem den nationalen Düngemittelvorschriften der Mitgliedstaaten und der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 (Pflanzenschutz-VO)“.
Zu den Informationsanforderungen im Pflanzenschutz zählen auch Feldstudien, welche unter Praxisbedingungen die kurz- und langfristigen Auswirkungen der Anwendung auf die Lebewesen auf der Zielfläche berücksichtigen. Dabei wird auch die Wiedererholung einer Population nach einer kurzfristigen Beeinträchtigung berücksichtigt. Solche Feldstudien wurden auch mit Kalkstickstoff durchgeführt und haben keinerlei Anzeichen für eine dauerhafte Beeinträchtigung des Bodenlebens gegeben. Ganz im Gegenteil, in einem 53-jährigen Dauerversuch an der TU München zeigte sich, dass die biologische Aktivität des Bodens bei langjähriger Kalkstickstoffdüngung sogar deutlich erhöht war. Aber auch dies wäre nach REACH ja schon wieder eine Veränderung und somit ein unerwünschter Effekt.

Worin liegt dann aber der Fehler im System?
Das derzeitige Dilemma mit dem ECHA-Beschränkungsverfahren zu Kalkstickstoff zeigt, dass die gängige REACH-Vorgehensweise auf die Düngemittelanwendung nicht übertragbar ist, will man nicht mittelfristig die gesamte Mineraldüngung infrage stellen. Organische Dünger wie Gülle oder Gärreste hätten – würden sie nach REACH bewertet – erst recht keine Chance. Es ist also dringend erforderlich, unter Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Erfordernisse ein realistisches, praktikables und nachvollziehbares Verfahren zur Risikobewertung von Düngemitteln zu entwickeln, welches auch in Zukunft eine gezielte Pflanzenernährung erlaubt, ohne die Produktionsgrundlage, den Boden, nachhaltig zu schädigen. Erst wenn ein solches Verfahren vorliegt, kann man Düngemittel einer entsprechenden einheitlichen Bewertung unterziehen.


Düngerstreuer

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Die neusten ECHA-Einschätzungen bezüglich der Verwendung von Kalkstickstoff, sowie die Unterstellung, dass sich Landwirte sowieso nicht an Auflagen halten würden, wirft viele Fragen auf. Handelt es sich hierbei noch um neutrales, fundiertes Fachwissen? mehr


Können Sie den aktuellen Stand des Verfahrens kurz zusammenfassen?
Aus vielen Richtungen wurde die ECHA auf die Auswirkungen auch außerhalb der Landwirtschaft hingewiesen. Durch den Beschränkungsvorschlag würde die einzige Kalkstickstoffproduktion Europas gefährdet. Aus ihm werden Verbindungen hergestellt, die bei der Herstellung wichtiger Medikamente und Diagnostika benötigt werden. Die europäischen Pharma- und Diagnostikahersteller geraten bei einer Schließung der einzigen Kalkstickstoffproduktion in Europa in eine komplette Abhängigkeit von chinesischen Vorlieferanten. Aufgrund dessen musste das SEAC in seiner abschließenden Bewertung deutliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Vorschlages einräumen. Das Verbot scheint kaum geeignet, der Umwelt zu nutzen, verursacht erhebliche Kosten. Eine Verhältnismäßigkeit ist nicht erkennbar. Wir erwarten, dass die ECHA den Beschränkungsvorschlag mit den finalen Stellungnahmen von RAC und SEAC in Kürze an die EU-Kommission übermittelt. Ob diese den Beschränkungsvorschlag auf Basis der widersprüchlichen Gutachten überhaupt übernimmt, ist aus heutiger Sicht nicht sicher. Falls sie ihn aber übernimmt und an die Mitgliedsstaaten weiterleitet, dann beginnt der eigentliche politische Entscheidungsfindungsprozess, dessen Dauer schwer zu prognostizieren ist.