Ackern in der „Hölle“
Geboren auf einem Bauernhof in Bayern, LPG-Aktivist in der DDR und seit vielen Jahren Nebenerwerbslandwirt – Johann Scheringer hat eine bewegte Lebensgeschichte. Auch mit fast 85 Jahren ist er noch aktiv.
Von Jürgen Drewes
Eine herrliche Gegend. Weite Wiesen und Felder, mittendrin fließt die Recknitz, Boote sind unterwegs, Angler versuchen ihr Glück, Fahrradtouristen erkunden die Landschaft. In Sichtweite die Kleinstadt Marlow. Mit dem wohl schönsten Vogelpark Deutschlands. Noch so ein Besuchermagnet. Und hier soll es zur Hölle gehen?
Willkommen bei den alten teufeln
Kurze Nachfrage in Camitz. Ein Bewohner im Pflaumenweg weiß Bescheid. Etwas abseits habe immer ein Hinweisschild „Zur Hölle“ gestanden. Das wurde wiederholt geklaut. Irgendwann wurde die permanente Neuanschaffung der Gemeinde zu teuer. Und ohnehin sei da nichts los. Gerade mal zwei Familien würden in alten Siedlerhäusern wohnen, einer sei Landwirt, so die Aussage.
Genau dort will ich hin. Anfangs ein Plattenweg, wohl dem ländlichen Wegebau nach der Wende zu verdanken. Dann wird’s ungemütlich. Ein Feldweg mit tiefen Löchern. Am Ende wird das Ziel sichtbar. Ein Haus, voll im Schatten alter Bäume. Familie Scheringer steht auf einem Schild im Vorgarten von Zur Hölle 1.
Johann Scheringer wartet schon. „Willkommen bei den alten Teufeln. Wer hier heil durchkommt, hat die Hölle überstanden“, gibt er lächelnd zu verstehen. Im Juli wird er 85. Das sieht man ihm nicht an. „Als Bauer bleibt man ewig jung und immer voller Tatendrang“, lautet die Antwort. Und führt mich sogleich voller Stolz zu seinem 10 ha großen Roggenschlag gleich neben dem Haus.
„Die Ähren sind sehr groß, der Bestand total gesund und gut über den Winter gekommen. Und endlich hat auch mal wieder das Wetter mitgespielt. Der viele Regen bis Ende Mai war ein Segen. Die gefürchtete Frühjahrstrockenheit ist ausgeblieben. Nun muss es nur noch mit der Ernte klappen“, schaut Johann Scheringer mit Zuversicht auf die im Wind wogenden Ähren. Und der erfahrene Landwirt hat noch eine gute Nachricht zu vermelden: Die Aufkaufpreise für Getreide seien aktuell so hoch wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Faire preise
1953, so die Aussage des Mannes mit der langen Berufserfahrung, lag der Preis für Weizen zwischen 42 und 44 DM pro hundert Kilo, also je Dezitonne. Derzeit seien es 22 € – das heißt nahezu identisch. Fast 70 Jahre lang sei es zuletzt nur bergab gegangen. Die Liberalisierung des Agrarmarktes durch die EU seit Mitte der 1990er-Jahre habe erst recht zu einem nachhaltigen Preisverfall geführt. Das sei schmerzhaft für die gesamt Branche gewesen. Der Getreidepreis sei letztlich der Schlüsselpreis für alle Produktionszweige, nicht zuletzt auch für die Tierhaltung. Das Einkommensausgleichsgesetz, das parallel auf den Weg gebracht wurde, sei wenig hilfreich gewesen. Im Gegenteil, die sogenannte Flächenprämie habe zu negativen Aussagen innerhalb der Gesellschaft geführt. Viele Menschen würden das als Geschenk für die Landwirte sehen. „Aber das ist es nicht. Wir wollen keine Geschenke, wir wollen faire Preise“, redet sich Nebenerwerbslandwirt Johann Scheringer in Schwung.
Und er lässt viel Lebenserfahrung einfließen. Groß geworden mit zehn Geschwistern auf einem bayerischen Familienbetrieb, war für ihn mit Blick auf die Unternehmensnachfolge kein Platz. „Das war alles viel zu klein. Mich haben vielmehr die großen LPG in der DDR interessiert. Mit meiner Berufsausbildung und einem Studium an der Hochschule in Meißen bin ich 1961 dann endgültig rübergemacht“, erzählt Johann Scheringer. Dass er vermutlich als einziger ausgerechnet im Jahr des Mauerbaus die Seiten wechselte, als Tausende die umgekehrte Richtung von Ost nach West einschlugen, will er so nicht stehen lassen. „Es sind damals rund eine halbe Million Menschen in die DDR übergesiedelt, vielleicht sogar mehr. Das ist nie richtig aufgearbeitet worden“, gibt Scheringer zu verstehen, der in jenen Jahren zu einem steilen beruflichen Aufstieg bis zur Wende 1989 startete.
Vorwiegend im damaligen Kreis Ribnitz-Damgarten. Erste Station war Daskow. Es folgte Semlow, anfangs als Leiter der Schweineproduktion, ab 1972 als gewählter Vorsitzender der LPG. 1978 zog es ihn in die Vorzeige-LPG nach Trinwillershagen, anschließend noch für kurze Zeit ins nahe gelegene Eixen. Überall hat er seine ganz persönliche Handschrift hinterlassen. „Er hat die Genossenschaften richtig gut bzw. noch besser, als zuvor gemacht“, erinnern sich einstige Mitglieder an die damalige Zeit.
Nebenerwerbslandwirt seit 60 jahren
1990 – mit der Wende – war Schluss mit Landwirtschaft im Haupterwerb. Da zog es den damals Mittfünfziger in die Politik. Als Mitglied der PDS anfangs in die Volkskammer, nach deren Auslösung in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Im Einigungsprozess hat Johann Scheringer maßgeblich am Landwirtschaftsanpassungsgesetz mitgewirkt. Als Basis für den Übergang der einstigen Produktionsgenossenschaften in die Marktwirtschaft. „Ein schwieriger Prozess, am Ende aber erfolgreich, ein Gesetz, das bis heute Bestand hat“, bilanziert Johann Scheringer, der sich auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen engagiert hat. Zeitweise in bis zu sieben Ehrenämtern. Sein Markenzeichen: Rote Socken. Das ist bis heute so geblieben. Jeden Tag aufs Neue. Ehefrau Ilse sorgt permanent mit fleißiger Nadel für Nachschub. „Andere wollten mich für die Socken schon in die Hölle schicken. Aber da bin ich ja längst angekommen“, lacht Scheringer. Vieles andere sei inzwischen Geschichte.
„Das Alter fordert seinen Tribut. Heute bin ich nur noch Vorsitzender der Jagdgenossenschaft hier in der vorpommerschen Region und Nebenerwerbslandwirt“. Und das seit nunmehr 60 Jahren. Was den Arbeitsumfang betrifft, auch hier kein Vergleich mehr zu früheren Zeiten.
Zwölf Schweine und ein Rind in der Mast, ein Pferd, ein großer Garten mit Gemüseanbau, Kartoffeln, Rüben, Heu. Und Tomaten für den öffentlichen Handel. Sowie bis zu 20.000 Stiefmütterchen jedes Frühjahr. „Die haben wir für die Stadtwirtschaft in Stralsund produziert. Sie haben uns ihre Fischkisten über den Zaun geworfen und wir haben sie vollgemacht“, lacht Ehefrau Ilse. Sie hat ehemals als Ökonomin in der LPG gearbeitet. Nebenerwerbslandwirtschaft nach Feierabend habe einfach dazu gehört. Als Ausgleich und Entspannung zugleich.
Optimistischer blick in die zukunft
Im Garten stehen fünf Tomatenpflanzen in großen Kübeln, einiges im Gewächshaus und ein paar Stiefmütterchen im Garten. Plus der zehn Hektar Acker und zwei Hektar Wald, der vor allem für die Selbstversorgung der seit 1993 betriebenen Holzvergaserheizung auf dem Hof bewirtschaftet wird. „Das reicht. Mehr geht nicht“, heißt es unisono, während Ehemann Johann den Füllstand im alten Regensammler kontrolliert. Mit Blick auf den kleinen Haussee, der gerade entschlammt wurde und der im Winter gern zum Eisstockschießen genutzt wird. Inzwischen gelebter, etwas ruhigerer Alltag, nach vielen intensiven Arbeitsjahren.
Doch so soll es nicht bleiben. Neues Leben wird auf dem Nebenerwerbshof einziehen. Die Unternehmensnachfolge, vielerorts ein Problem, ist geregelt. Sohn Alexander kehrt zurück. Der 43-Jährige ist Pferdespezialist, hat sich intensiv mit der medizinischen Wirkung von Stutenmilch beschäftigt und ist als Therapeut unweit von Bützow im Landkreis Rostock tätig. Die künftige Adresse soll der elterliche Hof sein, mit einer neuen Nebenerwerbsfacette: Pferde sollen hinzukommen. Das Baumaterial für den Ausbau einer eigenen Wohnung im ehemaligen Stall ist bereits geliefert. Demnächst soll es losgehen.
„Wir freuen uns. Nebenerwerbslandwirtschaft ist so wichtig. Mehr als die Hälfte aller Landwirte in Deutschland wirtschaften im Nebenerwerb. Ich habe mich im Bauernverband viele Jahre für diese Ausrichtung engagiert, weil die Tätigkeit für Vielfalt steht“, blickt Johann Scheringer gemeinsam mit seiner Frau von der Hölle aus optimistisch in die Zukunft.