Praxispartner MV

Agrofarm eG Lüssow: 150 Kühe weniger – weil Melker fehlen

Amely Neitzel konzentriert bei der Arbeit (c) Gerd Rinas
Agrarpraxis
Artikel teilen

Einmal im Monat schlägt auf der Agrofarm in Lüssow bei Rostock die „Stunde der Wahrheit“: Dann kommen über 700 melkende Kühe nicht nur zum Melken, sondern auch zur Milchkontrolle in den Melkstand. Für Herdenmanagerin Lisa Straßburg ist die Kontrolle ein wichtiges Steuerinstrument.

Von Gerd Rinas

„Auf der Basis von Milchproben werden Milchmenge, Fett- und Eiweißgehalt, Harnstoff und Hemmstoffe sowie die Zellzahl bestimmt. Wir erhalten genaue Angaben sowohl über jede einzelne Kuh als auch über die Herde insgesamt“, erläutert Straßburg. Auf dieser Basis kann die Herdenmanagerin rasch reagieren, wenn die Daten bei einer Milchkuh aus dem Ruder laufen. In der Agrofarm eG Lüssow ist die Milchkontrolle Teil des Herdenmanagements. Im Milchwirtschaftsjahr 2021/22 haben die Rinder der Agrofarm 9,07 Mio. kg Milch gegeben. Mit 11.259 kg pro Kuh bei 4,12 % Fett und 3,64 % Eiweiß zählte der Betrieb in der Herdengröße bis 999 Tiere wieder zu den leistungsstärksten in Mecklenburg-Vorpommern.

Milchkontrolle: Arbeitsbeginn um 3 Uhr morgens

Die Milchkontrolle wird generalstabsmäßig vorbereitet. Lisa Straßburg hatte vor der Aktion am Dienstag voriger Woche eine unruhige Nacht. „Ich bin schon um 3 Uhr wach geworden und hab an die Arbeit gedacht. Eigentlich hätt‘ ich erst um 3.50 Uhr losgemusst. Aber ich bin dann aufgestanden und gefahren“, berichtet die 60-Jährige, die schon als Schülerin in den Ferien auf der LPG in Lüssow gearbeitet hat, später dort von der Pike auf lernte, alle Tätigkeiten in der Tierhaltung durchlief und sich qualifizierte, bevor sie 2017 zur Herdenmanagerin berufen wurde. Auch am Abend gegen 18 Uhr, Lisa Straßburg hatte eigentlich schon lange Feierabend, schaute sie noch einmal im Melkstand vorbei, ob auch alles vorbereitet war. „Klein Schwiesow, wo ich wohne, ist ja gleich in der Nachbarschaft, das ist kein Problem“, sagt Straßburg, die vor zwei Jahren das letzte Mal bei der Milchkontrolle dabei war. Danach hat sie Jüngeren Platz gemacht.

Wie immer zu diesem Anlass übernehmen die Männer Aufgaben, die sonst Frauen erledigen. Repromeister Ricardo Klatt kümmert sich ausnahmsweise um die Kälber. Kevin Schrobsdorf treibt die Kühe in den Vorwartehof und Siegfried Sellin füttert. Für die Milchkontrolle wird das Team im Melkstand um drei Kräfte verstärkt. So auch in der Nachtschicht am Dienstag voriger Woche. Während Edda Fischer und Amely Neitzel melken, steht die junge Saskia Nehring „am Kasten“: Sie nimmt von „Trägerin“ Hanna Arendt die kleinen Flaschen mit den Gemelkproben in Empfang, füllt die Milch zunächst in einen Glaszylinder und dann in ein Proberöhrchen, das später in Kisten zur Untersuchung ins MQD-Labor nach Güstrow gebracht wird.

Saskia Nehring nimmt von Natalie Hein und Anna Arendt (von links) Milchproben in Empfang.
Saskia Nehring nimmt von Natalie Hein und Anna Arendt (von links) Milchproben in Empfang. (c) Gerd Rinas

Zellzahl und Harnstoffwerte im langjährigen

Anschließend dokumentiert die Tierwirtin den Empfang der Milchprobe. Auszubildende Natalie Hein notiert als „Schreiberin“ vom Display am Melkstand die Nummer der Kuh, von der gerade Milch in die Probeflasche fließt. Später überträgt sie die Nummer auf einen Aufkleber auf der Flasche. Dieser Vorgang wiederholt sich bis in die frühen Morgenstunden 727 Mal, bis alle Kühe ab dem sechsten Tage nach dem Kalben bis zum Trockenstellen eine Milchprobe abgegeben haben. Das junge Team im Melkstand der Agrofarm eG Lüssow hat sehr gut zusammengearbeitet und bei der Milchkontrolle wieder bewiesen, wozu es in der Lage ist.

Drei Tage später lagen die Ergebnisse vor. Die Kühe gaben durchschnittlich 38,9 kg Milch. Wie immer wies das Nachtgemelk weniger Fett und Eiweiß auf als das Tagesgemelk. Aktuell waren es 3,75 % Fett und 3,63 % Eiweiß. Hemmstoffe waren keine in der Milch, Zellzahl und Harnstoffwerte im langjährigen Mittel.



Agrofarm eG Lüssow: akuter magel an fachpersonal

Trotz dieser guten Nachrichten bereitet die Milchproduktion Sorgen. „Seit 2018 hat der Mangel an Fachpersonal zugenommen. Uns fehlen ausgebildete Melker“, sagt Lars-Peter Loeck. Der Vorstand sieht für diese Entwicklung mehrere Ursachen. „Für viele junge Leute ist das Berufsbild des Tierwirts nicht mehr attraktiv. Freizeitgenuss, Arbeits- und Ausbildungszeiten zwischen sieben und siebzehn Uhr haben einen viel höheren Stellenwert als früher“, glaubt Loeck.

Schichtarbeit und Überstunden passten offenbar nicht mehr in die Vorstellungen vom modernen Berufsleben. „Mein Eindruck ist, dass Arbeit einen geringeren, Urlaub, Freizeit und Hobbys, Erholung und Familie einen höheren Stellenwert für junge Leute haben“, sagt Loeck nachdenklich. Für den Vorstand macht sich das Fehlen einer Berufsvorbereitung, wie es sie früher in Schulfächern wie „Produktionsarbeit“ oder dem „Unterrichtstag in der Produktion“ gab, negativ bemerkbar. „Viele haben nur noch einen Job und keinen Beruf, spüren schon gar nicht Berufung“, bedauert Loeck. Lange hat die Agrofarm eG Lüssow versucht, mit verstärkter Ausbildung von Tierwirtinnen und Tierwirten die Lücken zu schließen. Als das immer weniger gelang, schaltete man eine ausländische Arbeitsagentur ein, die Melkerinnen und Melker aus osteuropäischen Ländern vermittelte.

Auszubildende Hanna Arendt, bei der Milchkontrolle eigentlich für das Einsammeln der  Milchproben verantwortlich, treibt Kühe vom Vorwartehof in den Melkstand.
Auszubildende Hanna Arendt, bei der Milchkontrolle eigentlich für das Einsammeln der Milchproben verantwortlich, treibt Kühe vom Vorwartehof in den Melkstand. (c) Gerd Rinas

Reduzierung des Tierbestandes notwendig

Herdenmanagerin Lisa Straßburg trägt auf der Agrofarm zusammen mit ihrer Kollegin Jessica Pannenborg und Karin Gehrt, Leiterin Tierproduktion, die Verantwortung für die Milchproduktion.
Herdenmanagerin Lisa Straßburg trägt auf der Agrofarm zusammen mit ihrer Kollegin Jessica Pannenborg und Karin Gehrt, Leiterin Tierproduktion, die Verantwortung für die Milchproduktion. (c) Gerd Rinas

„Unsere Erfahrungen sind durchwachsen“, lässt Loeck durchblicken. Den besten Eindruck haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinterlassen, die für ein Jahr aus der Ukraine nach Lüssow kamen. „Drei Ehepaare haben in den vergangenen Jahren bei uns gearbeitet. Sie waren fachlich kompetent und zuverlässig“, betont der Vorsitzende, den beeindruckte, dass die jungen Leute auch Entbehrungen auf sich nahmen, um auf der Agrofarm Geld zu verdienen. So blieben deren Kinder in dieser Zeit meist bei den Großeltern. Auch Arbeitskräfte aus EU-Ländern haben in Lüssow schon gemolken. Die letzten beiden Melker aus einem benachbarten EU-Land verschwanden vor Weihnachten ohne Vorankündigung aus der Betriebswohnung. „Über Nacht“, ärgert sich Loeck noch heute.

Danach hat sich der Vorstand der Agrofarm schweren Herzens zu weitreichenden Konsequenzen entschlossen. Der Milchkuhbestand soll von 950 auf 800 Kühe reduziert werden. 25 Jungkühe, 30 zuchtuntaugliche Schlachtkühe und 20 tragende Färsen haben den Betrieb schon verlassen, weitere abgekalbte Kühe sollen folgen. „Mit weniger Tieren können wir die Melkschicht verkleinern. Statt einem Treiber und zwei Melkern bleiben in einer Schicht zwei Melker, die sich die Tiere selbst in den Melkstand holen. Die Milchleistungsgruppen werden kleiner, das Kuh-Fressplatzverhältnis verbessert sich“, versucht Lars-Peter Loeck dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen. Ob am Ende weniger Einnahmen aus der Milch mehr schmerzen oder man sich mit geringeren Kosten trösten kann, ist für ihn zweitrangig. Ebenso, dass der Auszahlungspreis mit 45 ct/kg Milch zurzeit gerade auf dem Höchststand ist. „Die Personalsituation zwingt uns zu diesem Schritt. Leider“, bedauert der Vorstand.

Weitere Nachrichten aus den Bundesländern