Holsteinzucht: Genetische Trends und Zuchtwertschätzung
Intensive Selektion und Top-Management haben zu mittleren Herdenleistungen von über 12.000 kg Milch pro Tier geführt. Moderne Holsteinkühe sollen aber heute mehr können, als „nur“ viel melken.
Von Prof. Wilfried Brade, TiHo Hannover
Zuchtfortschritt wird in Milchrindbetrieben schon seit Längerem vor allem über die Besamungsbullen erzielt. Jeder Milcherzeuger wünscht sich daher ein breites Angebot bester Vererber zu günstigsten Preisen. Die Vielfalt ist dabei für individuelle Anpaarungen wichtig, aber auch um Inzucht zu vermeiden.
Wir zeigen in diesem Beitrag realisierte genetische Trends in der Holsteinpopulation und speziell auch im deutschen Holsteinbullenbestand. Dazu standen die Zuchtwertschätzungen aller in deutschen Besamungsstationen eingestallten Holsteinbullen der Jahrgänge 1995–2021 zur Verfügung (Zuchtwertschätztermin: Januar 2023). Vorausgesetzt wurde, dass diese Tiere auch im Rahmen der Künstlichen Besamung (KB) zum Einsatz gelangten.
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Holsteinzucht: Deutsche Holsteinbullen
In der Milcherzeugung mit deutschen Holsteinkühen (DH) kann eine jährliche Anhebung des beobachtbaren (phänotypischen) Leistungsniveaus (∆P/Jahr) für die Milchmenge in Höhe von circa 100–120 kg Milch/Kuh/Laktation in den letzten beiden Jahrzehnten genannt werden. Wertet man zugehörige genetische Trends im Besamungsbullenbestand (∆ZW) aus, so lässt sich schlussfolgern, dass dieser Leistungsanstieg vorrangig durch gezielte genetischzüchterische Aktivitäten sichergestellt wurde (Abb. 1).
Abbildung 1: Trends bezüglich Zuchtwert Milchleistung (∆ZW)*
Da keine nennenswerten Veränderungen im Milchfett- bzw. Milcheiweißgehalt im Bullenbestand angestrebt wurden, liegen die zugehörigen genetischen Veränderungen für die Milchfett- und -eiweißmenge auf einem sehr ähnlichen Niveau. Gleichzeitig ist eine auffallende Konstanz der Zuchtwertveränderungen (∆ZW/Jahr), speziell für die Milchmengenmerkmale, anzuerkennen. Demgegenüber sind für zahlreiche funktionelle Merkmale, insbesondere auch für die Nutzungsdauer (RZN), nennenswerte Zuchtfortschritte im Vatertierbestand erst mit der Etablierung der genomischen Selektion zu beobachten (Abb. 2).
Abbildung 2: Genetische Trends für die funktionellen Zuchtwerte (∆ZW)*
Aufgrund eines deutlichen Merkmalsantagonismus zwischen Milchleistung und Fruchtbarkeit (hier: Rastzeit, RZ) zeigt sich – in Verbindung mit einem hohen Selektionsdruck auf die Milchleistungsmerkmale speziell in der jüngeren Vergangenheit – sogar ein negativer genetischer Trend bis in die jüngsten Holsteinbullengenerationen.
Die konsequente, langjährige Selektion der genutzten Vatertiere auf immer höhere Milchleistung in enger Verbindung mit einer völlig ungerechtfertigten Wertschätzung sehr edler, großer Tiere im extremen Milchcharakter führten darüber hinaus zur „Wegzüchtung“ wichtiger Körperreserven, die in Form negativer Trends – speziell in den Körperkonditions(BCS)-Zuchtwerten – jetzt auch nachgewiesen werden können (Abb. 3). Und dieser Trend hält leider immer noch an; wie auch die jüngsten auswertbaren Besamungsbullenjahrgänge zeigen (Abb. 3).
Abbildung 3: Trends ausgewählter Exterieurzuchtwerte (∆ZW)*
Mit anderen Worten: Die Holsteinzüchter sollten umdenken – weg von „falschen Schönheitsidealen“ in Form von sehr edlen, sehr großen Kühen mit einem extrem scharfen Widerrist usw., sondern den Fokus auf Funktionalität/Stabilität der Kühe richten.
Da die verfügbaren Vatertiere allerdings in der Praxis sehr unterschiedlich – vorrangig in Abhängigkeit von ihren individuellen Zuchtwerten und weniger vom Jahrgang des Bullen – genutzt werden, bleibt schließlich noch der genetische Trend im Milchkuhbestand zu verifizieren.
Trends bei Milchkühen
Die beobachtbaren (phänotypischen) Milchmengenleistungen (305 Tage) haben sich in 30 Jahren erheblich erhöht. Eine Auswertung im vit Verden nennt einen mittleren Anstieg für Holsteinkühe von +111,2 kg Milch pro Jahr in der zweiten Laktation auf Ebene der deutschen Holsteinpopulation in den letzten 20 Jahren. Vergleicht man diesen Trend im Kuhbestand (∆P) mit dem zugehörigen genetischen Trend im Vatertierbestand, kann geschlussfolgert werden, dass der Zuchtfortschritt im KB-Bullenbestand bezüglich der Milchmengenleistung erfolgreich in der Praxis umgesetzt wurde.
Und wie ist es bezüglich des Merkmals Nutzungsdauer (ND)? Mit einer aktuellen ND von 1.178 Tagen (circa 39 Monate) liegt sie bei der deutschen Holsteinpopulation auf einem international vergleichbaren Niveau. Allerdings kann nur ein leicht positiver phänotypischer Trend (∆P = +8 Tage pro Jahr) in den letzten 20 Jahren beobachtet werden – deutlich weniger, als genetisch-züchterisch zu erwarten war. Anders gesagt: Tatsächlich sind leider nur minimale Zunahmen in der ND zu beobachten.
Merkmal Nutzungsdauer
Offensichtlich wird der genetisch-züchterische Zuchtfortschritt für die ND im Vatertierbestand nicht in gleicher Weise auch im Milchkuhbestand umgesetzt. Mögliche Gründe für diese unbefriedigende Entwicklung dürften folgende Gründe haben:
- ein (bis in die jüngste Vergangenheit genutztes) nur ungenaues Zuchtwertschätzmodell für die ND auf Basis des „Survival Kit“, das leider im vit Verden noch bis 2018 zur Anwendung kam,
- die gängige Praxis, eine Altkuh möglichst früh durch eine Färse zu ersetzen, da Eutergesundheitsprobleme mit zunehmendem Alter der Kühe stark zunehmen,
- die Nichtbeachtung eines zunehmenden Energiedefizits in der Frühlaktation mit zunehmender Milchleistung und
- die kontraproduktive Selektion auf immer edlere Holstein-Milchkuhtypen (Abb. 3). Außerdem basiert(e) die Erhöhung der Milchmengenleistung (Gesamtlaktation) auf einer Zuchtwahl mit einer immer höheren Einsatzleistung.
Ungeachtet der begrenzten Futteraufnahmekapazität – vor allem zu Beginn der Laktation –, hat dieser Leistungszuwachs zu einer kontinuierlichen Zunahme der negativen Energiebilanz (NEB) in der Frühlaktation geführt. Eine lang andauernde und umfassende NEB muss als ein bedeutender Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen bzw. Fruchtbarkeitsstörungen angesehen werden. Der Energiestatus von Milchkühen ist ein Merkmal, das in aktuellen Zuchtprogrammen leider (noch) nicht berücksichtigt wird (Abb. 4). Wir können uns deshalb auch nicht wundern, wenn Altkühe (≥ 3. Laktation) regelmäßig in einem ausgelaugten, kranken Zustand zum Schlachter gehen.
Der zunehmende Anteil der P1-Kühe am Schlachtkuhanteil ist bester Beweis für diese züchterische Fehlentwicklung; speziell im Holsteinbereich (Abb. 5). Dieses Resultat passt wiederum gut mit dem beobachteten negativen Trend bezüglich der Körperkonditions-Zuchtwerte (BCS-Zuchtwerte) im Vatertierbestand überein (Abb. 3).
Funktional und gesund
Da künftig an die Milchkühe höhere Ansprüche, vor allem bezüglich Funktionalität und Gesundheit, gestellt werden müssen, ist eine weiter abnehmende Gewichtung der Milchmengenleistung zu erwarten. Das betrifft vor allem die Milchmenge in der Frühlaktation und bei zukünftigen Gesamtzuchtwerten (RZG). Zudem muss die tierindividuelle Futter- bzw. die Futterenergieaufnahme in der Frühlaktation unbedingt stärker miteinbezogen werden. Ohne diese Informationen sollten Zuchtansätze sowohl von konventionellen Milchkuhhaltern als auch von den Verbrauchern nicht länger akzeptiert werden. Die Zucht bleibt spannend.
Holsteinzucht – Ein Fazit
- In den letzten 20 Jahren stieg die genetische Leistungsveranlagung einer Holsteinkuh um etwa +1.800 kg Milch pro Laktation. Dabei beobachtete genetische Defizite bei den Fruchtbarkeitsmerkmalen konnten in jüngeren Bullengenerationen abgestellt werden.
- Die langjährige Selektion auf hohe Milchleistung und die hohe Wertschätzung für große Tiere mit extremem Milchcharakter führten zur „Wegzüchtung“ wichtiger Körperreserven.
- Der genetische Trend bei der Körperkondition ist seit Jahren deutlich negativ. Stark negative Vererber im BCS-Zuchtwert sind daher künftig besser zu meiden.
- Die Ursachen für die Nichtumsetzung des genetisch-züchterischen Fortschrittes für die Nutzungsdauer im KB-Bullenbestand auf phänotypischer Ebene im aktuell genutzten Milchkuhbestand bedürfen einer Prüfung.
- Weitere intensive Leistungssteigerungen in der Frühlaktation –ohne Beachtung der negativen Energiebilanz – sind aus Gründen des Tierschutzes abzulehnen.
- Holsteinzucht muss sich weiterentwickeln, denn sie setzt höchstes Managementniveau voraus. Das können (oder wollen) nicht mehr alle Milcherzeuger gewährleisten (Stichwort: Weidenutzung).
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Meldung über die Erweiterung des Zuchtwertes
RZÖko: Ökologisch geprägter Gesamtzuchtwert
Bonn. Mit der August-Zuchtwertschätzung erscheint erstmalig der neue RZÖko in den Zuchtwertdatenblättern für Holsteins und Red Holsteins. Er bietet ökologisch und extensiv wirtschaftenden Betrieben ein sinnvolles Selektionsinstrument zur Bullenauswahl und ist auf die Bedürfnisse dieser Betriebe angepasst.
Im Vergleich zu RZG und RZ€ wird die Milchleistung mit insgesamt 27 % weniger stark gewichtet. Eine Herausforderung in den Ökobetrieben ist das bedarfsgerechte Füttern der milchleistungsstarken Holsteins unter extensiveren Bedingungen. Daher ist die Leistungskomponente mit „nur“ 18 % Eiweiß-kg und 9 % Fett-kg eher unterdurchschnittlich stark für einen Gesamtzuchtwert vertreten. Hinzu kommt eine Negativgewichtung von 6 % für Milch-kg, die zu einer Reduktion der energiefreien Milchmenge führen soll. Im Ergebnis wird der Zuchtfortschritt insgesamt in der Milchmenge im Vergleich zu RZ€ und RZG dadurch gebremst, ist jedoch durch die Berücksichtigung der Fett- und Eiweißmenge nach wie vor positiv.
Ein viel größerer Fokus liegt im neuen Zuchtwert auf der Nutzungsdauer (38 %) und der Gesundheit (21 %). Beide Merkmale sind für eine nachhaltige Bewirtschaftung essenziell. Unter ökologischen Bedingungen ist der Einsatz vieler Arzneimittel stark eingeschränkt oder mit doppelter Wartezeit verbunden. Der RZGesund ermöglicht dabei die Zucht auf eine gute Gesundheit und hilft, den Medikamenteneinsatz zu minimieren. Zusätzlich entfallen 5 % auf den Körperkonditionszuchtwert (BCS), der ein Abmagern zu Laktationsbeginn vermeiden soll. Für problemlose Kalbungen fließt der RZKm mit 3 % in den RZÖko ein. Die Kombination der Merkmale im Index führt auch zu eher mittelrahmigen Kühen.
Der RZÖko wird analog zum RZG auf der Relativskala ausgegeben und hat im Mittel der Kuhpopulation einen Wert von 100. Er wird für alle genomisch untersuchten weiblichen Tiere sowie auf deutscher Basis veröffentlichte Bullen ausgegeben. Bei der Entwicklung wurden Forschungsergebnisse aus dem Projekt Longlife berücksichtigt (orgprints.org/id/eprint/38467). Der RZöko soll weiter entwickelt werden. Mit Praktikern und Beratern werden weitergehende Anforderungen bspw. für zusätzliche Merkmale gesammelt.
Mehr Informationen unter: richtigzuechten.de/allgemein/rzoeko