Kälberhaltung neu überdenken!

(c) Sabine Rübensaat

Nach Zahlen der Tierseuchenkasse liegen in Sachsen die Kälberverluste bei 18 Prozent, inklusive Totgeburten! Es ist davon auszugehen, dass es in anderen Bundesländern ähnlich ist.

Von Dr. Ilka Steinhöfel

Erschüttert habe ich Ende vergangenen Jahres die Zahlen zur Höhe der Kälberverluste zur Kenntnis genommen, die Dr. Mandy Schmidt von der Sächsischen Tierseuchenkasse zum Milchrindtag präsentiert hatte: 18 % inklusive der Totgeburten! Wir haben es in den letzten Jahren nicht geschafft, diesen hohen Anteil auch nur um ein Prozent zu reduzieren. Anders als im Bereich der immer stärker leistenden laktierenden Kühe hat sich der Anspruch der Kälber an Umwelt und Ernährung in dieser Zeit kaum geändert. Mir stellte sich die Frage: Fehlt es an Wissen, an Einsicht, an Kraft, Dinge zu ändern? Dabei sind wir uns der Relevanz der Kälbergesundheit für die Leistungsbereitschaft und Langlebigkeit der späteren Kuh sehr wohl bewusst.

Evolution bietet geniales System

Die Evolution hat in Millionen von Jahren ein geniales System entwickelt. Dieses gilt es zu verstehen, zu akzeptieren und zu nutzen. Noch im Mutterleib bereitet die Kuh das Kalb auch immunologisch auf die Umwelt vor, in die es hineingeboren wird. Das gelingt der Kuh am besten, wenn es ihr gut geht und sie ihren Bedarf an essenziellen Faktoren wie Nährstoffen, Vitaminen, Spurenelementen, aber auch Sozialkontakt und Bewegung decken kann. Nach der Kalbung schließt das Erstkolostrum hier nahtlos an.

Kälber beim Hoffest Ökodorf Brodowin
Zu viert aus dem Eimer: Frühstückszeit in der Kälberbox (c) Anne Katrin Pischel

Der Fakt, dass die Kuh, wenn sie die Chance dazu erhält, sich zur Kalbung aus dem Herdenverband zurückzieht und das Kalb seine ersten Lebenstage getrennt von der Herde bestreitet, schafft Zeit, um einen ausreichenden immunologischen Schutz aufzubauen, bevor sich das Kalb mit den Keimen der Herde auseinandersetzen muss. In den ersten Tagen nach der Geburt ist das Immunsystem des Kalbes noch nicht so weit entwickelt, dass es seinen Körper gegen eine hohe Erregerdichte schützen kann. Dazu kommt, dass am Ende der ersten Lebenswoche der Darm des Kalbes eine erste Zellmauser durchmacht. Das Darmepithel ist zu dieser Zeit besonders empfindlich. Werden vorher massive Infektionen mit Durchfallerregern zugelassen, ist das spätestens der Zeitpunkt, an dem auch der erste Durchfall auftritt.

Situation untersucht – Ergebnis alarmiert

Ein 2016 vom Sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG) durchgeführtes Monitoring untersuchte die Situation in 60 sächsischen Betrieben. Die Studie hat gezeigt, dass gerade in den Bereichen der Abkalbung, Erstversorgung und der Hygiene im Haltungsbereich der Neugeborenen noch viele Reserven schlummern. Vor allem in Beständen mit kontinuierlicher Abkalbefolge und permanentem Kälberbesatz reißen die Erregerketten nicht ab. Regelmäßige Desinfektion im Abkalbebereich ist die Ausnahme. Der Keimdruck für Kuh und Kalb unmittelbar nach der Kalbung ist dementsprechend sehr hoch.


Dr. Ilka Steinhöfel

Die Autorin

Dr. Ilka Steinhöfel arbeitet im Referat Tierhaltung des Sächsischen Landesamtes fürUmwelt, Landwirtschaft und Geologie in Köllitsch. Im Rahmen ihrer Tätigkeit beschäftigt sie sich seit vielen Jahren intensiv mit der Kälberaufzucht und -haltung.


In nur sehr wenigen Betrieben wird das Erstkolostrum untersucht. Gerade damit wäre aber sehr gut einzuschätzen, wie der Kuh in der Trächtigkeit die immunologische Vorbereitung ihres Kalbes gelungen ist und wie wertvoll die erste Tränke in Bezug auf die weitere Entwicklung des Kalbes zu bewerten ist. Als infektiöse Faktoren für die ermittelten hohen Durchfallerkrankungsraten konnten die bekannten potenziellen Durchfallerreger, wie Rotaviren, Kryptosporidien, Clostridien und darmpathogene E.coli-Bakterien, bestätigt werden. Sie sind meist überall im Stall zu finden. Ob das Kalb daran erkrankt, entscheiden der Keimdruck, seine Konstitution und immunologische Stärke.

Problem Durchfall wird unterschätzt

Nahezu die Hälfte der teilnehmenden Betriebe waren sich der gesundheitlich angespannten Situation in ihrem Bestand nicht bewusst. Dabei sind früh an Durchfall erkrankte Kälber auch anfälliger für spätere Erkrankungen wie Lungenentzündung. Eine regelmäßige kritische Analyse der gesundheitlichen Situation der Kälber gibt Aufschluss über notwendigen Handlungsbedarf. Um Betriebsblindheit auszuschließen, empfiehlt es sich, auch betriebsfremde Augen sehen zu lassen. Erkranken weniger als 30 % der Kälber, ist alles im grünen Bereich. Ist der Anteil höher, sollte zwingend nach den Ursachen gesucht werden. Der Zeitpunkt der ersten Symptome, die Schwere und die Dauer der Durchfall-Erkrankung können wichtige Hinweise darauf geben. Zur Erregerdifferenzierung sollten die Kotproben möglichst von unbehandelten Kälbern mit pastöser bis breiiger Kotkonsistenz stammen. Es sollten Kälber jeder Alterskategorie beprobt werden.

Die Kleinsten am strengsten schützen

Kälbchen liegt im Stroh
Viel frisches Stroh: So sollte eine Kälberbox aussehen (c) Sabine Rübensaat

Beispielsweise sind Kryptosporidien aufgrund ihres Vermehrungszyklus erst sicher ab der zweiten Lebenswoche des Kalbes nachzuweisen. Wichtig fanden wir den Hinweis des Labors auf das Vorhandensein der „normalen“ fäkalen gramnegativen Darmflora. Ist diese beeinträchtigt, nutzen Durchfallerreger die Situation brutal aus. Die Ursache für die Fehlbesiedlung könnte eine frühe Infektion mit enteropathogenen Erregern schon in der Abkalbebox oder eine frühere Behandlung des Kalbes z.B. aufgrund von Nabelentzündungen sein. Der hohe Anteil an Kälbern, die in der Studie mit massiven Infektionen mit Cl. perfringens schon in den ersten drei Lebenstagen auffielen, zeugt von einer frühen Fehlbesiedlung des Verdauungstraktes der Kälber in den ersten Lebensstunden. Als Ursachen vermuten wir ungenügende Hygiene in der Abkalbebox, aber auch Erregerübertragung durch Hände, Kleidung, Tränkgeschirr schon beim Antränken. Nehmen wir dem Kalb dazu auch noch die Chance, sich dagegen zu wehren, indem wir ihm zu spät ein hochwertiges Erstkolostrum geben, ist die Durchfallerkrankung kaum zu vermeiden.

Hygiene, Platz und fachkundige Betreuung

Die Evolution hat nicht mit unserer Stallhaltung gerechnet. Deshalb sind wir gezwungen, uns auf die biologischen Verhältnisse einzustellen. Wenn wir diese akzeptieren, werden wir unsere Kälber gesund halten können. Konkret verlangt dies, den Erregerdruck für die Neugeborenen zu minimieren, den Zeitpunkt einer Infektion möglichst weit nach hinten zu verschieben, das Kalb maximal mit Schutzstoffen zu versorgen und die Stressoren aus dem Umfeld so gering wie möglich zu halten. Diese vier Forderungen sind kostenintensiv und nur schwer zu automatisieren. Sie bedürfen Individualität, Zeit und Material für Reinigung und Desinfektion, Platz für ausreichend lange Leerstandszeiten und motiviertes, geschultes und fachkundiges Personal mit einem ausreichenden Zeitbudget. Aber nicht nur diese großen Brocken müssen für einen dauerhaften Effekt gestemmt werden. Oft sind es Details, die die Wirksamkeit großer Maßnahmen unwirksam erscheinen lassen, da hier ähnlich wie in der Tierernährung das Liebig‘sche Minimumprinzip (Abbildung 1) gilt. Welches Brett das Fass zum Überlaufen bringt, kann nur eine umfassende Analyse der betriebsindividuellen Bedingungen zeigen. Wir haben in den letzten Jahren baulich dafür gesorgt, Kälber und Kühe getrennt voneinander aufzustallen. Das hat aus den oben genannten Gründen durchaus seine Berechtigung, verhindert aber auch, dass sich das Immunsystem der tragenden Kühe mit den Erregern der Kälber auseinandersetzen kann.

Stallbau in den Fokus nehmen?

Grafik aus einem Kälberstall
Die kombinierte Haltung von Trockenstehern und Kälbern und die funktionelle Abtrennung des Abkalbe- und Neugeborenenbereiches

Mit der Muttertierschutzimpfung versuchen wir, diese Lücke zu schließen. Mit den gängigen Impfstoffen erreicht man sicher die Spitze des Eisberges. Stallspezifische Vakzine könnten effektiver sein. Aber vielleicht könnte man den gleichen Effekt erreichen, wenn man die Nähe der trockenstehenden Kühe zu den zwei bis drei Wochen alten Kälbern zulässt. Eine Skizze für eine mögliche Strukturierung zeigt Abbildung 2. Eine saubere Abkalbung („just in time“) vorausgesetzt, sollte dieser und der Bereich der Neugeborenen bis maximal sechsten Tag hygienisch von den Kühen und den älteren Kälbern getrennt sein. Diese Trennung sollte möglichst örtlich und personell erfolgen, sssodass eine Infektion der neugeborenen Kälber mit den Erregern der älteren Kälber weitestgehend vermieden werden kann. Die besseren hygienischen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Abkalbung soll die Infektion mit Cl. perfringens und enteropathogenen E. coli eindämmen. Die Trennung der neugeborenen von den älteren Kälbern hat zum Ziel, die frühe Infektion mit Kryptosporidien zu unterbinden, da aufgrund des Entwicklungszyklus dieses Parasiten frühestens am sechsten Lebenstag mit einer massiven Ausscheidung an Oozysten zu rechnen ist.

Anstrengend, aber erfolgreich!

Wir haben es selbst in der Hand. Kranke Kälber sind kein Hexenwerk, sondern die biologische Folge einer für das Kalb schwer zu bewältigenden Menge an pathogenen Erregern. Das heißt, gesunde Kälber sind entweder fit genug, sich gegen Erreger zu wehren oder im Umfeld der Kälber gibt es wenig Erreger. In Beispielbetrieben konnten wir mit der Installation betriebsindividueller Maßnahmen im Bereich der Abkalbung, der Erstversorgung und dem Haltungsbereich der Neugeborenen die gesundheitliche Situation der Kälber positiv beeinflussen. Mit der strengen Einhaltung der Hygienemaßnahmen ist es gelungen, die Durchfallquote von vorher 56 % auf 30 % zu senken. Kryptosporidien-Infektionen konnten in einem Betrieb ohne medikamentelle Unterstützung in der Zeit der Untersuchung vollständig eliminiert werden. Mit System, Konsequenz und Beharrlichkeit waren Erfolge zu erzielen, die es nun heißt, in der täglichen Routine zu erhalten und nicht wieder einschlafen zu lassen. Hier gilt es, die Mitarbeiter mit ins Boot zu holen, gemeinsam nach Wegen zu suchen, denn nichts ist demotivierender, als täglich kranke Tiere versorgen zu müssen. Motivieren kann ein regelmäßiges Feedback zum Erfolg der Arbeit, aber auch der Wegfall körperlich schwerer und nerviger Arbeiten durch Technikeinsatz. Einfach zu demontierende Ventile oder vielleicht sogar eine Spülmaschine für Kälbertränkeimer könnten Zeit für einen zusätzlichen Kontrollgang schaffen. Ein Motivationssprung durch körperliche Erleichterung und mehr Freude an der Arbeit mit gesünderen Kälbern kann trotz strenger Vorgaben für Sauberkeit und Hygiene das Betriebsergebnis vielleicht nachhaltig verbessern.