Wolfsattacken: Nähe zu Menschen erhöht die Gefahr
Seit 2002 wurden weltweit 489 Angriffe von Wölfen auf Menschen erfasst, 26 endeten für die Opfer tödlich. Eine neue Studie liefert auch Zahlen zu Zwischenfällen in Europa.
Weltweit stehen seit dem Jahr 2002 exakt 489 Angriffe von Wölfen auf Menschen zu Buche, 26 endeten für die Opfer tödlich. Die meisten Vorfälle ereigneten sich in der Türkei, in Indien und im Iran. Diese Zahlen stammen vom Norwegischen Institut für Naturforschung (NINA), das seine frühere Studie über Wolfsattacken auf Menschen, die zwischen 1950 und 2002 erfolgten, jetzt aktualisiert hat.
Wolfsattacken: zwei tödliche angriffe in 18 jahren
Für Europa und Nordamerika weist der neue Report für die letzten 18 Jahre zwei für die Menschen tödliche Angriffe (je einen in den USA und Kanada) sowie elf nicht tödliche Angriffe aus. Vier davon ereigneten sich in Polen, drei in Kanada und je einer in den USA, in Italien, Kroatien, Nordmazedonien und im Kosovo. Nur der Wolf in Kroatien war mit Tollwut infiziert. Zwölf der Fälle hatten einen sogenannten prädatorischen Ursprung, waren also auf Beutefang ausgerichtet.
Wahrscheinlichkeit eines Wolfsangriffes „immer noch äußerst gering“
Da in keinem der Länder ein Mangel an Beutewild herrscht, gehen die Verfasser der Studie davon aus, dass hier die Gewöhnung an den Menschen und der Zugang zu Hausabfällen eine Rolle spielten. Auftraggeber der NINA-Studie waren der WWF Deutschland, der Internationale Tierschutz-Fonds (IFAW) und der Nabu.
Die Verbände leiten aus ihr ab, dass die Wahrscheinlichkeit einer Wolfsattacke „auch trotz gestiegener Wolfsbestände immer noch äußerst gering“ sei. Dennoch müsse allen bewusst sein, dass es absolute Sicherheit nicht geben könne – ebenso wenig wie im Umgang mit Haus- oder Nutztieren, heißt es wörtlich in der Mitteilung der Verbände zum Erscheinen der Studie.
Drei Situationen mit erhöhtem Risiko
Allerdings betonen die Verbände, dass auch für sie die Sicherheit der Menschen für sie an oberster Stelle stehe. In der deutschsprachigen Zusammenfassung der Studie sind immerhin drei der sieben Seiten möglichen Handlungsoptionen und dem vorbeugenden Schutz vor Zwischenfällen gewidmet. Einerseits stellen sie fest, es sei „in unserer dichtbesiedelten Kulturlandschaft selbstverständlich, dass auch Siedlungen in den rund 250 km² großen Revieren von Wölfen liegen“. Andererseits liest man dort, es verlange „Aufmerksamkeit“, wenn ein Wolf mehrfach in einer Entfernung von weniger als 30 m von bewohnten Häusern über einen längeren Zeitraum beobachtet werde.
Tatsächlich nennt auch die Studie drei Situationen, in denen ein erhöhtes Risiko für Wolfsattacken besteht:
- eine „große Nähe“ zu Menschen – die norwegischen Forscher nennen einen Abstand von 30 bis 50 m;
- direkte Annäherung zu Menschen und
- die Assoziation von Menschen mit Nahrungsquellen.
Die Verbände betonen zwar ausdrücklich, solche Konstellationen bedeuteten „nicht automatisch, dass es zu einem Angriff des Wolfs kommt“. Gleichzeitig müssen sie einräumen, dass „viele Übergriffe … aus solchen Situationen“ entstehen. Um Angriffe auf Menschen zu verhindern, sollten sie präventiv vermieden werden.
Wölfen den Zugang zu Nahrung versperren
Die Verfasser der Studie empfehlen, Wölfen den Zugang zu Nahrungsquellen zu versperren, die direkt mit Menschen assoziiert werden können. Damit sind zum einen Mülldeponien oder Komposthaufen gemeint. Gerade letztere sind, anders als in Städten, im ländlichen Raum sehr verbreitet. Zum anderen betrifft es Vorräte, die beim Wandern oder Campen, aber auch bei der Waldarbeit mitgeführt werden. „Lebensmittel und Abfälle sollten sicher aufbewahrt werden“, raten die Verbände.
Die Verbände verweisen auf die Notwendigkeit, den Wolfsbestand über ein aktives Monitoring zu überwachen. Damit könne für Menschen potenziell gefährliches Verhalten frühzeitig erkannt und eine Eskalation der Situation verhindert werden, heißt es. Nicht erklärt wird jedoch, wie dies rein technisch bei einem ungebremst wachsenden Bestand möglich sein soll.
REALITÄTSFERNE HINWEISE
Auch der Hinweis, dass die Besenderung von auffälligen Wölfen mit GPS-Halsbändern ein Eingreifen „wenn nötig, erleichtern kann“, soll vermutlich den Eindruck erwecken, man könne einen Wildtierbestand lückenlos überwachen. In der Realität erweist sich das Einfangen von Wölfen, um sie mit Sendern zu versehen, bislang als nicht sonderlich erfolgreich.
Wenig mit der Lebenswirklichkeit, zu tun hat auch die Darstellung, aggressive Wölfe würden „in der Regel sofort getötet“. Dafür gibt es zumindest in Deutschland kein Beispiel. Jenen Fällen, bei denen es zu einer Entnahme kam, gingen langwierige verwaltungstechnische und politische Diskussionen voraus. In Niedersachsen hatte der Nabu erst im April 2021 gedroht, den Klageweg gegen das Umweltministerium zu beschreiten, nachdem es einen „Problemwolf“ zum Abschuss freigegeben hatte. Die veganen Tierrechtler von Peta machten ernst und erstatteten nach dem Abschuss eines Tieres aus dem Herzlakener Rudel im Februar 2021 Anzeige gegen den Schützen, der den behördlichen Auftrag ausgeführt hatte.
Jagd auf Wölfe keine Lösung?
Die Jagd als mögliches Mittel der Prävention lehnen die drei Verbände einhellig ab. Eine generelle Bejagung würde das Auftreten von Wölfen mit problematischem Verhalten nicht verhindern, meinen sie. Ihre Begründung: Diesem Verhalten lägen in der Regel „individuelle positive Erfahrungen eines Wolfs mit Menschen zugrunde“. Als Beispiel wird „beabsichtigtes oder unbeabsichtigtes Anfüttern“ erwähnt.
Die Begründung erscheint zumindest übertragen auf die Wolfsangriffe gegen Weidetiere fragwürdig, ja zynisch. Schließlich wird die Landschaftspflege mit Schafen oder die tierwohlfördernde Weidehaltung von Rindern mit dem gezielten „Anfüttern“ von Raubtieren gleichgesetzt.
Großer Teil Europas ausgeblendet
Die aktuelle NINA-Studie ergänzt eine frühere Untersuchung der Wissenschaftler um Dr. John Linnell aus dem Jahr 2002. Ihr Verdienst war es, alle bekannten Vorfälle seit dem Jahr 1950 zu erfassen. Aus Sicht von IFAW, WWF und Nabu zeigten die Ergebnisse „schon damals, dass es zwar Angriffe durch Wölfe gab, die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch sehr gering war“. In den untersuchten 51 Jahren verletzten Wölfe in Europa und Nordamerika 68 Menschen, acht davon tödlich. Bei über der Hälfte der Angriffe war seinerzeit Tollwut im Spiel.
Allerdings sah sich Linnell schon damals mit dem Vorwurf konfrontiert, in seiner vom norwegischen Umweltministerium finanzierten Arbeit nicht objektiv vorgegangen zu sein. Er selbst hatte als erstes Ziel seines Projektes angegeben, die Furcht der Menschen vor den Wölfen zu verringern. Kritiker sehen darin einen Verstoß gegen das wissenschaftliche Prinzip der Offenheit. Schließlich habe damit schon vor Beginn seiner Analysen für ihn festgestanden, dass es keinen Grund für Furcht gibt, argumentieren sie.
Schwerer wiegt allerdings, dass die Norweger schon 2002 einen erheblichen Teil Europas gar nicht berücksichtigt haben: Russland. Dessen europäischer Teil entspricht annähernd der Fläche der Europäischen Union. Man habe unglücklicherweise keinen russischen Kollegen als Mitautor gewinnen können, schrieb der Projektleiter damals zur Begründung. Was die Verfasser und ihre Auftraggeber nicht hindert, die Zahlen als repräsentativ für „Europa“ und Nordamerika zu verwenden.
Daten aus Russland nicht einbezogen
Diesen Mangel hätte man inzwischen korrigieren können. Schließlich veröffentlichte der Eberswalder Wildbiologe Prof. Christoph Stubbe im Jahr 2008 einen ausführlichen Aufsatz, für den er zahlreiche russische und sowjetische Quellen auswertete („Der Wolf in Russland – historische Entwicklung und Probleme“, Beiträge zur Jagd- und Wildforschung, Band 33). Verlässlich zusammengefasstes Material eines renommierten Wissenschaftlers liegt also sogar in deutscher Übersetzung vor.
Stubbe hatte zu DDR-Zeiten u.a. an der Universität im sibirischen Irkutsk geforscht. Seine Kenntnisse und seine Kontakte von damals flossen in die vielbeachtete Aufstellung ein. Doch hat das NINA-Team diese Sammlung weder nachträglich ausgewertet noch in seiner aktuellen Studie berücksichtigt.
Fazit: In der Tat ist die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einem Wolf zum Opfer zu fallen, statistisch gesehen nicht sehr hoch. Dennoch würde allein die Möglichkeit, dass Todesfälle eintreten könnten, in anderen Fällen quasi automatisch das Vorsorgeprinzip bis hin zu Verboten in Kraft setzen. Nicht so im Artenschutz. Die Stimmen derer, die zu verstärkter Vorsicht mahnen, werden daher immer lauter. Darunter sind – wie man sieht – mittlerweile selbst jene Verbände, die sich den Schutz der Wölfe ausdrücklich auf die Fahnen geschrieben haben.