Pestizidfreie Schweiz?

Schweizer Volksabstimmung: Faktenfrei und aggressiv

Das Trinkwasser der Stadt Thun (44.000 Einwohner) im Berner Oberland stammt zu einem Viertel aus Quellen und zu drei Vierteln aus Grundwasser, das vom Thunersee gespeist wird.
Hintergrund
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In zwei Volksabstimmungen sollten die Schweizer über eine „pestizidfreie“ Landwirtschaft entscheiden. Wie es dazu kam und wie es ausging, ordnet unser Schweizer Autor Jürg Vollmer ein.

Von Jürg Vollmer


Wenn wir Schweizer nicht so verdammt überkorrekt wären, dann hätten wir uns den ganzen Zirkus sparen können. Aber nein, die Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) musste ja unbedingt die neuesten Analysemethoden für Metaboliten (Abbauprodukte) von Pflanzenschutzmitteln im Trinkwasser haben.

Auf Krawall gebürstet

Diese neuen Analysen finden sogar 0,1 Mikrogramm Metaboliten pro Liter Trinkwasser. Das entspricht einem Zehntel eines Millionstel Grammes pro Liter. Weil diese Dosis schwer vorstellbar ist, hier ein Vergleich: Trinkt man Wasser mit einer Konzentration von 0,1 Mikrogramm Aspirin, müsste man 1.400 Jahre lang täglich einen Liter davon trinken, um die Dosis einer einzigen Aspirin-Tablette aufzunehmen. Homöopathische Präpaprate sind dagegen „knallharte Pharmazeutika“.

Aber wenn man etwas messen kann, dann machen wir Schweizer daraus gleich auch ein Gesetz. Über Nacht wurde deshalb der zulässige Grenzwert zum Beispiel für Metaboliten des Fungizids Chlorothalonil von 10 auf 0,1 Mikrogramm pro Liter Trinkwasser gesenkt, also um den Faktor 100.

Eine Überschreitung dieses neuen Grenzwertes führt nicht etwa zu Gesundheitsschäden. Viel-mehr wurden die 0,1 Mikrogramm pro Liter vor 40 Jahren festgelegt, als man mit den damaligen analytischen Methoden keine niedrigeren Konzentrationen messen konnte. Wasser mit einer Fremdstoffkonzentration unter 0,1 Mikrogramm pro Liter war sozusagen die „analytische Null“.

Für die Kantons-Chemiker (die obersten Wasserkontrolleure der Schweizer Bundesländer) war das so klar wie das Quellwasser in einem unberührten Bergtal. Nicht so für einige auf Krawall gebürstete Medien, deren Schlagzeilen die Bevölkerung beunruhigten: „Die Pestizid-Höllen der Schweiz – die Daten fördern Brisantes zutage: Die verseuchten Gebiete erstrecken sich über die ganze Schweiz“, hieß es da etwa.

Umstrittenes Kampagnenplakat zur Volksabstimmung in der Schweiz. Es erinnert an vergangene Glyphosat-Kampagnen in Deutschland.
Umstrittenes Kampagnenplakat zur Volksabstimmung in der Schweiz. Es erinnert an vergangene Glyphosat-Kampagnen in Deutschland. QUELLE: INITIATIV-KOMITEE

Zwei Gruppen von Aktivisten witterten daraufhin ihre Chancen und sammelten je 100.000 Unterschriften für Volksinitiativen (Volksentscheide), mit denen die Bundesverfassung geändert werden sollte: Die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative (Kasten).

Beobachter schätzen, dass hinter den beiden Volksinitiativen insgesamt kaum mehr als 100 Landwirte stehen. Ihnen gegenüber stehen 50.000 Schweizer Landwirte, davon 15 % Biolandwirte. In einigen Gebirgsregionen wirtschaften sogar 60 bis 100 % der Landwirte mit dem Label „Bio Suisse“.

Die Initiatorin der Trinkwasserinitiative dagegen war Flugbegleiterin, ein Beruf, dessen ökologische Bilanz nicht gerade berauschend ausfällt. Franziska Herren saß im Abstimmungskampf gerne in Podiumsdiskussionen und erklärte Nicht-Landwirten die Schweizer Landwirtschaft. Da hatte sie ziemlich viel Meinung für nicht gerade viel Ahnung.

Die Initiatoren der Pestizidinitiative waren eine Gruppe Ökowinzer, die anstelle von „synthetischen Pestiziden“ ihre Reben mit dem Schwermetall Kupfer spritzen. Ihr Kampagnenleiter, der 23-jährige Dominik Waser, wollte bereits 2019 die Klimazerstörung mit einem Hungerstreik aufhalten, was naturgemäß eher nicht so viel brachte.

Als diese beiden Gruppen ihre Entwürfe für die Verfassungsänderung vorlegten, schüttelten die Schweizer Agronomen nur den Kopf. Um nur zwei Details herauszugreifen: Mit der Trinkwasserinitiative hätten die Schweizer Landwirte ihren Tierbestand nur noch mit betriebseigenem Futter füttern dürfen. Selbst für viele Ökolandwirte ein Ding der Unmöglichkeit. Mit der Pestizidinitiative hätte der größte Schweizer Kartoffelchips-Hersteller seine Produktion einstellen müssen, weil er jährlich 700 t Gewürze importiert, die er durch Biogewürze hätte ersetzen sollen. Die Schweizer Schokolade- und Kaffeeproduktion (Nescafé, Nespresso) hätte praktisch vollständig ins Ausland verlagert werden müssen.

Mit Mord gedroht

Die Fachleute bemerkten solche Fehler in den Initiativtexten sofort. Der Schweizer Bauernverband, die Dachorganisation Bio Suisse und sogar Urs Niggli als legendärer Vordenker des biologischen Landbaus besuchten Franziska Herren deshalb – und wurden von ihr mehr oder weniger freundlich vor die Türe gestellt. Beratungsresistent sei die Initiatorin, emotional und faktenfrei – so die Charakterisierung der Verbandsleute im Nachhinein.

Volksinitiativen müssen von der Schweizer Regierung (Bundesrat) zwingend den Bürgern zur Abstimmung vorgelegt werden. Das Parlament könnte diesen Initiativen einen Gegenentwurf gegenüberstellen, der meist eine abgeschwächte Form der Volksinitiative ist. In diesem Falle verzichtete das Parlament aber darauf, was ziemlich mutig war. Denn die ersten Umfragen einige Monate vor den Abstimmungen zeigten über 60 % Zustimmung.

Biolandwirt Markus Ritter,  Präsident des Schweizer Bauernverbandes, wartet am Abstimmungssonntag nervös auf die  Resultate der extremen Initiativen.
Biolandwirt Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbandes, wartet am Abstimmungssonntag nervös auf die Resultate der extremen Initiativen.

Pandemiebedingt mussten die Abstimmungen um ein Jahr auf den 13. Juni 2021 verschoben werden. Das verlängerte den Abstimmungskampf – und brachte ihn zum Eskalieren. Die Initiatoren und andere Befürworter bekamen Morddrohungen, der Schweizer Bauernpräsident und andere Widersacher ebenso. Plakate der jeweils anderen Gruppe wurden massenhaft zerstört, Wagen mit Abstimmungsplakaten der Initiativgegner brannten und „Nachtbuben“ schossen auf Pflanzenschutzspritzen am Feldrand.

Auslöser der Eskalation waren nicht etwa bodenständige Bauern, die im wahrsten Sinne des Wortes handfeste Argumente in die Diskussion einbrachten. Das Grundübel war die Negativ-Kampagne der Initiatoren.

So überschwemmte zum Beispiel die Pestizidinitiative das Land mit Plakaten von Schweizer Babys, die gemäß „wissenschaftlicher Untersuchungen“ von Pestiziden vergiftet wurden. Tatsächlich war es ein hemdsärmeliger Test von 33 Schulkindern (und nicht Babys), in deren Urin Metaboliten gefunden wurden:
■ Pyrethroid (u. a. gegen Kopfläuse)
■ Chlorpyrifos (u. a. gegen Bettwanzen)
■ Phthalate (Weichmacher aus Folien, Farben, Radiergummis etc.)
■ Bisphenole (findet sich in Plastikflaschen und -spielzeugen)
■ Parabene (in Cremes, Lotions, Seife, Sonnenschutz und Shampoo).

Und neben all diesen Stoffen auch einzelne Metaboliten von Wirkstoffen chemischer Pflanzenschutzmittel. Wobei zum Beispiel die Metaboliten von Glyphosat genauso gut von einem Teller Spaghetti hätten stammen können, deren Hartweizen aus Italien kommt, wo die in der Schweiz streng verbotene Sikkation (Vorerntebehandlung) exzessiv durchgeführt wird.

Stunde der Wahrheit bei VOlksabstimmungen in der Schweiz

Neben den beiden „Initiativ-Komitees“ kam noch ein dritter Faktor dazu: Die Umweltverbände WWF, Pro Natura, Greenpeace und Bird-Life lancierten eine millionenteure, flächendeckende „Agrarlobby stoppen“-Kampagne. Diese Kampagne machte alle Landwirte zu schmutzigen Kumpanen einer Lobby aus Agrarchemie, der (tatsächlich mächtigen) Agrargenossenschaft Fenaco und dem Schweizer Bauernverband.

WWF, Pro Natura, Greenpeace und BirdLife ließen sich ihre Kampagne vom Multi-Milliardär André Hoffmann finanzieren, dem Besitzer der Hoffmann-La Roche AG. Derselbe Konzern, dessen Tochterfirma Givaudan 1976 in Seveso eine der größten Umweltkatastrophen Europas verursachte, bei der hochgiftiges Dioxin freigesetzt wurde. Eine Tatsache, welche die Kampagne nicht glaubwürdiger machte.

Beide Volksinitiativen wollten die Landwirtschaft mit der Brechstange und mit den Millionen des größten Pharmakonzerns der Welt verändern. Das löste Ängste und Gehässigkeiten aus – und hatte wohl auch einen starken Einfluss auf das Ergebnis.

Am 13. Juni 2021 sind die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative klar gescheitert: Die Stimmbürger haben beide mit je 61 % Nein-Stimmen abgelehnt. Laut der Nachbefragung stimmten Wähler der Sozialdemokraten, Grünen und Grünliberalen mehrheitlich für die Trinkwasser- und die Pestizid-initiative. Das sind vor allem Bewohner der Großstädte Zürich, Genf, Basel und Bern. Die 61 % der Nein-Stimmen kamen von Wählern der bürgerlichen Parteien – und vor allem aus den ländlichen Regionen und den städtischen Perepherien. Interessanterweise stimmten die jungen Wähler von 18 bis 34 Jahren mehrheitlich gegen die beiden Initiativen.

Die Ziele der Volksabstimmungen in der Schweiz
Trinkwasser: Die Schweizer Landwirtschaft soll dafür sorgen, dass die Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser versorgt werden kann.
■ Die Schweizer Landwirtschaft soll dafür sorgen, dass die Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln versorgt werden kann.
■ Die Schweizer Landwirtschaft soll pestizidfrei produzieren.
■ Schweizer Landwirte erhalten keine Direktzahlungen, wenn sie in der Tierhaltung Antibiotika prophylaktisch oder regelmäßig einsetzen.
■ Die Schweizer Landwirtschaft darf ihren Tierbestand nur mit betriebseigenem Futter füttern.
■ Die Schweizer Landwirtschaft soll vom Bund überwacht werden, damit sie diese Vorschriften einhält. Der Bund soll die Öffentlichkeit regelmäßig über die Ergebnisse dieser Überwachung informieren.
Pestizide: Der Einsatz synthetischer Pestizide in der landwirtschaftlichen Produktion und Verarbeitung sowie in der Boden- und Landschaftspflege ist verboten.
■ Die Einfuhr zu gewerblichen Zwecken von Lebensmitteln, die synthetische Pestizide enthalten oder mithilfe solcher hergestellt worden sind, ist verboten.

Volksabstimmung in der Schweiz: Zeichen der Zeit wurden erkannt

Mit diesem doppelten Nein bekennt sich die Stimmbevölkerung der Schweiz zur heutigen Agrarpolitik. Eine Agrarpolitik, die alles andere als optimal ist. Aber Regierung, Parlament und der Schweizer Bauernverband haben die Zeichen der Zeit erkannt. Nach dem Nein dieser beiden Volksabstimmungen braucht die Schweiz eine Agrarpolitik, die Landwirtschaft, Umwelt, Raumplanung, Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft kohärent aufeinander abstimmt.

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