Reportage

Hofgestüt Bleesern: Zurück in die glanzvolle Zukunft

Das Ochsenaugenfenster überm Rundbogenportal ist typisch für Dresdner Barock. Im Ostflügel entsteht ein riesiger Saal. (c) Sabrina Gordes; Förderverein Bleessern; Felix Greif
Landleben
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Bleesern stand vor Jahrhunderten für Glanz und Gloria. Die Anlage in Sachsen-Anhalt war das Hofgestüt der Kurfürsten von Sachsen. Früher Mittel zur Herrscherinszenierung, heute ein Denkmal in Not. Doch Europas ältestes erhaltenes Gestüt seiner Art wird zu neuem Leben erweckt.

Von Sabrina Gorges

Ob wir belächelt worden sind? Insa Christiane Hennen lacht und winkt ab. „Man hat uns für vollkommen verrückt erklärt.“ Die Kunsthistorikerin sagt das ohne Groll und sieht sich wie zur Bestätigung um. In ihrem Gesicht ist ein Lächeln. Ihr Blick fällt auf die Reste einer zu großen Teilen zerstörten und zerfallenen Anlage. Die Planen auf den noch vorhandenen, notgesicherten Dachabschnitten flattern im Wind, das Mauerwerk bröckelt. Doch die Expertin sieht etwas, was andere nicht sehen. Und Mario Titze sieht es auch. Sie sehen das Hofgestüt Bleesern, wie es einst war. Glanzvoll, herrschaftlich und voller Pracht und Würde. Ein Ort kurfürstlicher Pferdezucht vor den Toren der Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt. Ein aufs höfische Repräsentieren ausgerichtetes Gebäudeensemble, das der Mensch in jüngerer Vergangenheit erst vernachlässigt und dann vergessen hat.

Belebung statt verfALL

Insa Christiane Hennen und Mario Titze sehen keine scheinbar abrissreifen Bauwerke – sie sehen ein 134 Meter langes und 120 Meter breites Denkmal mit Zukunft. Sie sehen Konzerte, Ausstellungen, Lesungen und Gastronomie. Sie sehen Belebung statt Verfall. Mit Europas ältestem erhaltenen Gestüt seiner Art haben sie Großes vor. Insa Christiane Hennen ist 56 Jahre alt, gebürtige Heidelbergerin und Vorstandsvorsitzende des Fördervereins Hofgestüt Bleesern. Seit 1993 wohnt die freiberufliche Spezialistin für Bauforschung und Denkmalpflege in Wittenberg. Mario Titze ist Mitglied im Vereinsvorstand und wohnt in Leipzig. Der 2010 gegründete Verein zählt aktuell 53 Mitglieder aus der gesamten Bundesrepublik, darunter auch Menschen aus dem Ort.

Mario Titze ist ebenfalls Kunsthistoriker und kommt erstmals im Jahr 1996 bei der flächendeckenden Inventarisierung großer Denkmale in Sachsen-Anhalt auf das Gelände des ehemaligen Hofgestüts der Kurfürsten von Sachsen. Er war niemals zuvor dort. Seit 1992 steht die Anlage unter Denkmalschutz. Bei seinem Besuch sieht Mario Titze Fassaden mit markanten Schlusssteinen sowie Rundbogenportale mit sogenannten Ochsenaugenfenstern. Er weiß sofort: Das ist etwas ganz Großes. „Ich war sofort geweckt“, sagt der 58 Jahre alte Experte im Dienst des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie in Halle (Saale). Geweckt deshalb, weil Mario Titze sieht, was andere zuvor höchstwahrscheinlich nicht gesehen haben. „Ich sah klar das Werk des sächsischen Baumeisters Wolf Caspar von Klengel.“ Schließlich hatte der gebürtige Chemnitzer umfangreich zum „Vater des Dresdner Barocks“ geforscht, der eben genau für monumentale Rundbogenportale und darüber liegende „Ochsenaugenfenster“ bekannt war. „Es waren seine Markenzeichen“, erklärt Mario Titze.

Geschichte voller Dramatik

Die Archive belegen, dass es etwa ab Mitte des 15. Jahrhunderts eine Stuterei in Bleesern gibt. Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) wird das Gestüt stark in Mitleidenschaft gezogen, 1655 gibt ihm eine Hochwasserkatastrophe den Rest. 1686 weiht Kurfürst Johann Georg III. das nach Klengels Entwürfen gebaute neue Gestüt ein – eine Inschrift mit dieser bedeutungsvollen Jahreszahl hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Großzügig geschnittene Anlagen wie Bleesern sind damals ein wichtiger Teil der Herrscherinszenierung, denn Pferde wurden als „beweglicher Thron“ betrachtet. 1722 endet die Zeit der Pferdezucht in Bleesern. Im Laufe der Geschichte fungiert das Hofgestüt, das im Wittenberger Ortsteil Seegrehna liegt, unter anderem als kurfürstliche Maultierzuchtstation, preußische Domäne und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwindet der südliche Teil des Westflügels der geschlossenen Vierseitenanlage. 1990 übernimmt die Treuhand und privatisiert Teile der Anlage. Ein Investor will eine Putenmastanlage einrichten, bekommt jedoch keine Genehmigung für sein Vorhaben. Der Eigentümer beginnt, die Bauten mutwillig zu zerstören und Materialien zu verkaufen. „Die Leute haben hier das barocke Gebälk verheizt“, weiß Insa Christiane Hennen.

Förderverein als Retter

Der gescheiterte Investor boxt seinen 2002 eingereichten Abbruchantrag über mehrere Jahre durch alle juristischen Instanzen. 2010 bekommt er tatsächlich die Genehmigung. Titze verfolgt im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie das Geschehen und wird unruhig. Im Jahr der erteilten Abbrucherlaubnis gründet er mit sieben Mitstreiterinnen und Mitstreitern den Förderverein und weiß genau, dass sofortiges Handeln nötig ist, will man die historische Anlage noch irgendwie retten. „Wir mussten Eigentümer werden. Daran führte kein Weg vorbei“, bekräftigt Mario Titze. Und das gelingt 2012 nach einigem Hin und Her für einen mittleren fünfstelligen Betrag. „Wir haben als Verein den Ost- und Südflügel sowie die Hoffläche gekauft, später noch einen Teil des Nordflügels“, sagt Mario Titze. „Damit waren wir Besitzer einer Ruine.“

2012 nimmt der Bund das Hofgestüt Bleesern in das Programm für national wertvolle Denkmale auf. 2017 wird der Förderverein mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz, der Silbernen Halbkugel, ausgezeichnet. Immer erfolgreicher gelingt es den Engagierten, auf die Bedeutung „ihres“ Hofgestüts und dessen bauliche Notlage aufmerksam zu machen – auch über die Grenzen Sachsen-Anhalts hinaus. Es finden sich Geldgeber, denn ohne die geht es nicht. Dazu zählen unter anderem das EU-Leader-Programm, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, Bund und Land. Insa Christiane Hennen sagt, dass in diesem Jahr über 100.000 Euro in die Notsicherung des Südflügels fließen, etwa 250.000 Euro sind für Arbeiten im und am Ostflügel bisher angefallen. „Hierbei ging und geht es ausschließlich darum, die Gebäude nutz- und betretbar zu machen.“ Und der Verein sammelt außerdem Spenden, wo und wann immer es geht. Auch, um für öffentliche Fördermittel den finanziellen Eigenanteil aufbringen zu können. Seit Bestehen konnte der Verein rund 180.000 Euro Spendengelder verbuchen und einsetzen.

Ort für Kultur und Begegnung

Längst hat der Förderverein Hofgestüt Bleesern ein Nutzungskonzept in der Schublade. Es trägt den Titel „Bleesern – Zentrum für Natur, Landwirtschaft und Kultur“. Die Gebäude sollen zunächst schrittweise und in Abhängigkeit vom Zustand der Bausubstanz gesichert und denkmalgerecht saniert werden – und dann wird wieder Leben einziehen. Wobei – interessierte Besucher sind schon jetzt willkommen. So gibt es auch in diesem Jahr – sofern Corona es zulässt – Führungen und Veranstaltungen wie das musikalische Picknick, den Sternritt für Reiter, Kutschfahrer und Pferdefreunde und ein Oldtimertreffen. Und am Tag des offenen Denkmals, der am 12. September bundesweit in der Lutherstadt Wittenberg eröffnet wird, wird das Gestüt einer der Höhepunkte des Programms sein und zeigen, dass es „ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Weltkulturerbe der Reformationsstätten und des Gartenreichs werden wird. Ein zentraler Ort der historischen Kulturlandschaft an der Elbe“, heißt es im Nutzungskonzept. Für das einst prachtvolle Hofgestüt gibt es also einen Plan – und im Idealfall eine echte Perspektive.