„Lauf, Robby, lauf…“
Was trieb den Extremsportler Robby Clemens an, rund 23.000 Kilometer vom Nordpol in Richtung Südpol zu Fuß zurückzulegen? Welche Erlebnisse und Eindrücke waren am nachhaltigsten? Wir haben nachgefragt.
Das Gespräch führte Wolfgang Herklotz
Fotos: Robby Clemens, Sabine Rübensaat (2)
Sie haben bei Ihrem jüngsten Fußmarsch mehr als ein Dutzend Länder durchquert. Wie oft gab es die Versuchung, das unglaubliche Projekt abzubrechen?
Aufzuhören kam nie infrage, selbst in den kritischsten Momenten nicht.
Welche waren das vor allem?
Grönland war schon eine enorme Herausforderung. Wenn Du das Zelt verlässt, um noch einmal vor der Nacht einem ganz natürlichen Bedürfnis nachzugehen und dann bei minus 40 Grad in einem Eisloch hockst, ist das schon ziemlich gewöhnungsbedürftig.
Aber sicherlich auch, am nächsten Morgen wieder in Gang zu kommen, oder?
Klar, das braucht ein bisschen Zeit. Man bewegt erst das eine Bein, dann das andere, und langsam kommt die Erkenntnis: Du lebst noch! Diese ist für mich ohnehin so eine Art Schlüsselerlebnis. Durch das Laufen habe ich zu meinem Leben zurückgefunden!
Welche besonders kritische Phase gab es noch?
Auf meiner Tour durch Texas wäre ich um ein Haar von Hunden zerfleischt worden. Die hatten die Größe von Kälbern, und ihr wütendes Gebell habe ich immer noch im Ohr. Die Hunde liefen am Zaun innerhalb einer Farm Richtung Tor, doch das stand dummerweise offen. Mein Glück war, dass gerade Autos vorbeirasten und der erste Vierbeiner durch die Luft flog … Dann kam der Farmer und pfiff die wütende Meute zurück. Glück gehabt, dachte ich mir.
Das haben Sie vermutlich noch zig weitere Male gebrauchen können.
Vor allem auf den Straßen Südamerikas lauerten große Gefahren. Obwohl es sich zumeist nur um miserable Schotterpisten handelt, sind dort die Autos und Laster wie Geschosse unterwegs. Die Wahrscheinlichkeit, umgebrettert zu werden, ist nach meiner Erfahrung viel größer, als von bewaffneten Drogenhändlern und sonstigen Banditen umgelegt zu werden, obwohl die reichlich unterwegs sind. Einmal dachte ich dann aber doch, dass mir das passiert.
Wo war das?
Auf einer Landstraße schon ziemlich im Süden Mexikos. Ein Pick-up fuhr ganz langsam vorbei, darin saßen vermummte, ziemlich grimmig dreinschauende Gesellen. Eindringlich musterten sie mich und meinen Begleiter, der seit Texas in einem gebrauchten Kombi der Marke Dodge vorsorglich ein Stück hinter mir her fuhr. Vorher hatte ich ja nur einen Buggy, also einen Kinderwagen, vor mir hergeschoben, um das Gepäck zu transportieren. Doch das nur nebenbei. Die Situation war mehr als brenzlig, aber schließlich fuhr der Pick-up vorbei und ließ eine riesige Staubwolke hinter sich. Doch irgendwann kam er zurück, und ich dachte: Das wars! Doch dann stieg vorn eine sehr betagte Mexikanerin aus. Sie begrüßte mich freundlich, streckte mir ihre knorrigen Finger entgegen und kniff mir in die Wange.
Wie das?
Ihre Söhne waren auf der Rücktour vom Ernteeinsatz gewesen, als sie mich überholt hatten. Zuhause erzählten sie das ihrer Mutter, und schnell wurde klar, dass ich der verrückte Deutsche zu Fuß durch Mexiko sein musste, über den ein Regionalsender berichtet hatte. Also ging es sofort zurück, um dem seltenen Gast nebst Begleiter dann auf der Ladefläche ein opulentes Mahl mit mexikanischen Köstlichkeiten zu bereiten. Es gab Tortillas, Bohnen und Zwiebeln, Salsa und Hühnchen, auf einer Tischdecke fein angerichtet.
Ein Festmahl nach all den Tütensuppen …
Absolut. Auf den Touren von Nord nach Süd war meistens Schmalhans der Küchenmeister. Umso mehr konnte ich die Gastfreundschaft vieler Menschen unterwegs genießen. Nicht die Gefahren durch Eisspalten oder mögliche Überfälle sind es, die im Gedächtnis bleiben, sondern die unzähligen tollen Begegnungen mit den Menschen entlang meiner Tour.
Sie haben all Ihre Erlebnisse in Ihrem Buch „Bis ans Ende der Welt …“ eindrucksvoll beschrieben. Das half, die Reise zu sich selbst zu verarbeiten. Sind Sie inzwischen angekommen?
Nein. Das Buch hat eine Menge dazu beigetragen. Aber in Gedanken bin ich immer noch unterwegs. Und zehre immer wieder davon, was ich an Ermutigung und Beistand gerade in schwierigen Situationen erfahren habe.
Erzählen Sie!
Dazu muss man wissen, dass ich schon vorher zahlreiche Aktionen zu Fuß gestartet habe. Meine persönliche Erkenntnis lautet: Auch wenn man noch so am Boden liegt, ein Aufstehen lohnt allemal! Dies möchte ich anderen vermitteln und engagiere mich deshalb auch als Botschafter des Vereins Haus Leben, der sich um die Betreuung von Krebskranken und ihrer Angehörigen kümmert. Als ich gerade bei der Grönland-Querung via Facebook und Twitter andere wissen ließ, dass es doch gerade ziemlich schwierig für mich wird, überraschte mich die Flut von Rückmeldungen aus meiner „Gemeinde“. Die Botschaft: Wenn Du das schaffst, schaffen wir das auch! Damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet und dachte mir: Jetzt hast Du ja einen tonnenschweren Rucksack an Erwartungen! Was mir anfangs wie eine Last erschien, erwies sich dann als zusätzliche Motivation. Ich wusste, dass ich auch in den kritischsten Augenblicken nicht allein bin, sondern viele Menschen hinter mir habe!
Was war eigentlich der Auslöser für Ihre ungewöhnlichen Vorhaben?
Meine Alkoholsucht, die wiederum mit der Pleite meines Unternehmens zusammenhing. Nach der Wende war ich, wie man so sagt, richtig durchgestartet. Der Sanierungsbedarf für Sanitär- und Heiztechnik war damals riesig, meine Firma entwickelte sich prächtig und verzeichnete Millionenumsätze. Ich rauchte dicke Zigarren, fuhr teure Autos, machte teuer Urlaub. Und dann kam der Crash. Das Imperium eines Herrn namens Utz Jürgen Schneider, der Immobiliengeschäfte in Leipzig gemacht und dann Milliardenverluste eingefahren hatte, brach über Nacht zusammen. Für meine Firma bedeutete das ein Minus von mehr als zwei Millionen Mark! Die Leistungen, die wir auf verschiedenen Baustellen erbracht hatten, wurden von einem Tag zum anderen nicht mehr bezahlt. Ich musste Leute entlassen, darunter auch Schwester und Schwager. Das war so unfassbar bitter. Eine Pleite in Deutschland hinzulegen, und sei sie unverschuldet, ist schlimmer als die Pest! Ich suchte Auswege im Glas, doch die fand ich nicht. Es wurde alles nur noch schlimmer!
Wie kamen Sie raus aus dieser Misere?
Ich hatte einen sehr verständnisvollen, aber auch sehr direkten Hausarzt. Der gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass es ein böses Ende nimmt, wenn ich mich nicht aufraffe. Der Termin für eine Entziehungskur stand schon fest, als mir einer meiner Saufkumpane von einem Schicksalsgenossen erzählte, der seine Sucht durch das Laufen in den Griff bekommen hatte. Den Gedanken fand ich viel verlockender als in die Klinik zu gehen. Ich kratzte die paar noch verbliebenen Ersparnisse zusammen, um mir vernünftige Laufschuhe zu kaufen. Und dann gings los!
Sichere Eskorte durch eine Fahrradstaffel der Polizei in Guatemala.
So einfach?
Von wegen! Nach den zweihundert Metern war ich schon am Ende, konnte nicht mehr. Zu dieser Zeit wog ich mehr als 120 Kilo, hatte keine Kondition, doch dafür noch jede Menge Alkohol in mir. Doch ich wollte nicht aufgeben, zumal ich ein paar Zuschauer hatte, die mein Tun aufmerksam verfolgten. Einer feuerte mich sogar an, rief: Lauf, Robby, lauf!
Frei nach dem Film „Forrest Gump“, in dem der Schauspieler Tom Hanks einen Laufbesessenen darstellt?
Genau, obwohl ich den Film damals noch nicht kannte. Mir war nach den ersten Läufen mitunter hundselend zumute, doch irgendwann merkte ich, dass mir die Bewegung doch guttat. Also lief ich weiter, vergrößerte Stück für Stück die Distanzen, entdeckte neue Ziele. Diverse Fußmärsche und gar eine Erdumrundung zumindest auf dem Festland hatte ich bereits hinter mir, als ich dann auf die Idee mit der Nord-Süd-Tour kam.
Inspiriert durch den Schlagersänger Frank Schöbel, der seinerzeit versprach, vom Nordpol zum Südpol zu gehen?
Ja, dieses Lied ging mir bei einem meiner Läufe durch den Kopf, obwohl ich eher die Musik von Rammstein mag. Aber die Idee an sich fand ich schon bemerkenswert. Nur dass ich die Route eben nicht wegen eines banalen Kusses wählen wollte, sondern um zu mir selbst zu finden.
Besuch des Krebskranken José im Hospiz von San Salvador. Ein Treffen mit dem Erzbischof von San Salvador.
Wie haben Sie den Marsch trotz des gewaltigen Schuldenbergs finanzieren können?
Vor allem durch die großartige Unterstützung meiner Familie und meiner geliebten Frau. Das Verständnis war viel wichtiger als alles Finanzielle. Wir haben verkauft, was wir konnten, und auch Spendengelder über eine Crowdfunding-Plattform eingesammelt. Zudem gab es kleine Sponsoren, die das Projekt unterstützten. Letztendlich wurde dieses aber zum größten Teil aus eigenen Mitteln finanziert.
Hatten Sie Kontakt zu Frank Schöbel?
Ja, er war von meinem Vorhaben sehr begeistert und hat auch mit dafür gesorgt, dass der bereits erwähnte Dodge als treuer Begleiter angeschafft werden konnte. Ich habe ihn dann Franky genannt.
Wie kam es, dass Sie Ihre Wanderung kurz vorm Ziel beendeten, knapp fünfhundert Kilometer vom Südpol entfernt?
Das letzte Stück zu meistern, wäre trotz der relativ geringen Entfernung nur mit großem Aufwand zu schaffen gewesen. In der Antarktis gibt es kaum Infrastruktur, Transport von Gepäck und Begleitung sind extrem teuer und kosten Zehntausende Dollar. Selbst wenn ich diese Mittel aufgetrieben hätte: Die eigentlichen Erlebnisse, die tollen Begegnungen mit Menschen hatte ich vor der Eiswüste ja hinter mir. Und schließlich wollte ich nach 19 Monaten endlich wieder nach Hause, zu meiner Familie! Den Südpol hatte ich ja zumindest gefühlsmäßig schon zig Male erreicht!
In Ihrem Buch berichten Sie von einem besonderen Geschenk, das Ihnen von einem krebskranken Mädchen überreicht wurde.
Es handelt sich um eine Feder, die die kleine Amanda aus Philadelphia seinerzeit von ihren Eltern als Trostspender bekam. Einem indianischen Brauch zufolge sollte damit Unheil abgewendet werden. Wie immer das auch geschah, das Mädchen wurde wieder gesund und schenkte mir dann bei unserer Begegnung mit strahlenden Augen die Feder und sagte: „Sie hat mir das Leben gerettet, aber jetzt brauche ich sie nicht mehr. Sie soll Dich beschützen, damit Du gut nach Hause kommst!“ Ich habe diesen Talisman gut aufgehoben, er begleitet mich bei meinen Vorträgen und Buchlesungen.
Was möchten Sie mit diesen vermitteln?
Vor allem, dass man sich nie aufgeben darf. Und auch nicht von Leuten anstecken lassen sollte, die Neid schüren und Unzufriedenheit verbreiten. Ich habe viele Male erlebt, wie Menschen gerade in Südamerika trotz ihrer bescheidenen Mittel so gern mit uns teilten und mit warmen Worten von Deutschland sprachen. Was sind unsere vermeintlichen Probleme schon im Vergleich zu denen vieler Bewohner Ecuadors, Mexikos oder Guatemalas?
Sagt einer, der weiter einen Schuldenberg abtragen muss. Empfinden Sie noch Wut auf den Spekulanten namens Schneider?
Nein, denn wenn es den nicht gegeben hätte, dann wäre ein anderer gekommen. Es waren und sind die Banken, die solche Geschäfte erst zulassen und dann andere dafür büßen lassen, wenn sie platzen.
Was ist schon der Einbruch in eine Bank im Vergleich zur Gründung einer solchen, hat Brecht mal sinngemäß gesagt.
Genialer Mann.
Sie sind mittlerweile wieder gut im sachsen-anhaltischen Hohenmölsen angekommen und voller Pläne. Was wünschen Sie sich und Ihrer Familie?
Vor allem Gesundheit. Und meinen Enkeln wünsche ich, dass sie sich ihre eigenen Träume erfüllen, vor allem aber lernen, Demut und Dankbarkeit zu zeigen. Dies ist für ein vernünftiges Leben in der Gesellschaft, wie ich erfahren habe, wichtiger als alles andere und gebe es gern weiter.
Das Interview mit Robby Clemens lesen Sie auch in der
Bauernzeitung Ausgabe 18/2020.