Scharfe Ernte: Meerrettich aus dem Spreewald
Schön ist er nicht – aber scharf! Im Spreewald geht es dem Meerrettich jetzt an die Wurzeln. Auf rund zehn Hektar wird geerntet – bis der erste Frost kommt. Und das ist knüppeldicke Arbeit für die Landwirte und ihre Helfer.
Von Bärbel Arlt
Fast im Schneckentempo tuckert Dirk Richter mit dem Traktor übers Feld. Immer wieder blickt er kontrollierend zum Roder, der das Wurzelgeflecht, das bis zu 50 Zentimeter fest im Erdreich steckt, aus dem Boden schüttelt. Wenig später rollt sein Cousin mit einem alten Deutz auf den Schlag und Helferinnen laden das verzweigte Wurzelwerk auf den Hänger.
Der rollt dann auf den nahen Hof des Gemüsebetriebes in Klein Klessow bei Lübbenau, wo Familie, Freunde, Bekannte und Saisonkräfte den Rettich zurechtstutzen: Die dicken Wurzelstangen werden von den vielen Nebenwurzeln befreit, gereinigt und nach Qualität sortiert – für den Verkauf zum Beispiel an den Spreewälder Traditionsbetrieb Rabe. Die Schwigatze – so werden die dünneren Nebenwurzeln im Spreewald bezeichnet – wiederum kommen über den Winter bündelweise in eine Erdmiete – und im Frühjahr als Pflanzgut wieder aufs Feld. 25.000 Schwigatze, so Dirk Richter, sind es pro Hektar.
Meerrettichernte ist Handarbeit
Meerrettichernte ist seit jeher ein Knochenjob und zum größten Teil Handarbeit. Ohne helfende Hände wären Anbau und jetzt die Ernte nicht zu bewältigen. So ist auch Werner Busch aus Klein-Klessow seit einigen Jahren auf dem Hof von Dirk Richter mit dabei und meint: „Das ist doch mal echte Nachbarschaftshilfe.“ Trotz der sehr aufwendigen Arbeit hat sich Landwirt Richter für den Meerrettichanbau entschieden – aus Enthusiasmus und Tradition wie er sagt, denn Meerrettich gehört zum Spreewald wie die Gurke – und ist wie die Gurke auch geografisch geschützt.
Im vierten Jahrhundert, so belegen es Aufzeichnungen, sollen die Slawen die scharfen Stangen in den Spreewald gebracht haben und sie wurden seither über Jahrhunderte angebaut. Allerdings kam nach der Wende der Anbau nahezu zum Erliegen. Dirk Richter setzte 1993 wieder die ersten Schwigatze in die Erde und baut die Wurzeln heute auf 1,4 Hektar an. Damit ist er der zweitgrößte Produzent im Spreewald hinter dem Gemüsebaubetrieb „Spreewald“ in Klein Radden.
Trockenheit mag er gar nicht
Insgesamt werden im Spreewald gut zehn Hektar Meerrettich angebaut. Durchschnittlich liegt der Ertrag pro Hektar bei zwölf bis 13 Tonnen. Dirk Richter mag zwar keine Ernteprognose abgeben, doch er zeigt sich relativ zufrieden. Sein Standort ist mit Nährstoffen gut versorgt, und der lehmunterlagerte Boden hält die Feuchtigkeit. Marcel Mich vom Gemüsebaubetrieb Spreewald aber geht von Ertragseinbußen aus. Denn der zwar warme, aber wieder zu trockene Sommer hat den Pflanzen erneut zugesetzt. Die Folge sind weniger stark entwickelte Hauptwurzelstöcke und die Ausbildung von mehr Nebenwurzeln.
Zitrone des Nordens
Meerrettich (Armoricia rusticana) wurde bereits vor 2.000 Jahren entdeckt und hat seine historischen Wurzeln in Ost- und Südeuropa. Auch in der Antike war er geschätzt. So sprachen die alten Griechen im Orakel von Delphi: „Radieschen ist sein Gewicht in Blei wert, Rettich in Silber, aber Meerrettich in Gold.“ Für den stechend scharfen Geschmack sind die Senföle verantwortlich, die so manchem die Tränen in die Augen treiben. Doch sie bewirken wahre gesundheitliche Wunder, sind antibakteriell, fiebersenkend, und helfen bei Stoffwechsel- und Verdauungsproblemen sowie Harnwegsinfektionen. Den Blättern wird helfende Wirkung bei Erkrankungen wie Gicht und Rheuma, Zahn- und Kopfschmerzen nachgesagt.
Aufgrund des sehr hohen Vitamin-C-Gehaltes wird der Meerrettich auch als Zitrone des Nordens bezeichnet. Er stärkt Abwehrkräfte und löst den Husten. Landwirt Dirk Richter weiß zu berichten, dass es Spreewälder gibt, die bei Husten Meerrettich auf die Brust auftragen, das mache die Bronchien frei. Auch eine Kette aus Meerrettichscheiben soll vor Husten schützen und Fieber senken. Aberglaube hin oder her: Eine kleine Meerettichscheibe soll im Portemonnaie dafür sorgen, dass das Geld nicht alle wird. Und wie isst der Spreewälder den Meerettich am liebsten? „Frisch gerieben auf Brot mit Leberwurst“, meint Landwirt Dirk Richter. Andreas Traube vom Spreewaldverein schwört als leidenschaftlicher Angler auf den Spreewälder Klassiker „Hecht in Meerettichsoße.“ Auch zu Tafelspitz, Rinderbrust und Wildgerichten passe das geriebene Wurzelgemüse hervorragend.
Mehr Infos: www.spreewaldverein.de
„Wir sind im Frühjahr schon mit einem Niederschlagsdefizit gestartet“, sagt Michael Petschick vom Vorstand des Spreewaldvereins. Und Trockenheit mag der Tiefwurzler nun mal gar nicht. „Er braucht die Feuchtigkeit von unten.“ Da habe auch die Beregnung im Sommer nicht viel bewirken können. Hinzu kommt, dass das Grundwasser so achtzig Zentimeter bis einen Meter gefallen ist und die Wurzeln dadurch nicht optimal versorgt werden konnten. „Unter den gegebenen Bedingungen wäre ein Gesamtertrag von rund 120 Tonnen in dieser Saison ein Erfolg“, so Petschick.
Meerrettich-Verarbeitung direkt im Spreewald
Geerntet wird bis Ende November beziehungsweise bis zum ersten Frost auf zwei Drittel der Gesamtfläche. Im Frühjahr kommt dann der Rest vom Acker. Damit ist die frische Rohware über einen längeren Zeitraum für die Verarbeitungsbetriebe verfügbar und muss nicht eingelagert werden. Der größte Verarbeitungsbetrieb im Spreewald ist die Firma Rabe Spreewälder Konserven GmbH in Boblitz. „Die Nachfrage bei den Verbrauchern ist konstant stabil“, sagt Markus Belaschk, der den über 100-jährigen Familienbetrieb in fünfter Generation führt. Geliefert wird vor allem an den Lebensmitteleinzelhandel, der Osten Deutschlands ist das Hauptabsatzgebiet. Aber auch Gastronomen und Fleischereien sind Meerrettichabnehmer.
Um alle vertragsgerecht beliefern zu können, wird auch zugekauft, so aus Ungarn, dem europäischen Hauptanbaugebiet. Neben dem Beelitzer Spargel und den Spreewälder Gurken besitzt der Spreewälder Meerrettich das EU-Gütesiegel „Geschützte geografische Angabe“. Damit ist garantiert, dass bei der Verarbeitung überwiegend Meerrettich aus regionalem Anbau verwendet wird. Und für die Zertifizierung müssen die Landwirte jeden Arbeitsschritt akribisch dokumentieren. Die Produkte, die in Boblitz in die Gläser kommen, basieren übrigens noch heute zum Teil auf DDR-Rezepturen und die des Großvaters von Markus Belaschk. Und natürlich kommen immer wieder neue Sorten wie Sanddorn-Meerrettich hinzu.
Alte Landsorte wieder im Kommen
Künftig soll die alte Spreewälder Landsorte oder offiziell „Meerrettich Spreewälder Herkunft“ vermehrt angebaut werden. „Dabei geht es nicht vordergründig um großen Ertrag, sondern um den Erhalt einer alten Kulturpflanze“, so Michael Petschick. Sie soll schärfer sein, sich besser putzen und verarbeiten lassen, als der jetzige „Virusfreie“.
EU-Gütesiegel
Beim Kauf von Meerrettich sollten Verbraucher auf das Siegel „Geschützte geografische Angabe“ achten. Das bedeutet, dass bei der Veredlung überwiegend Meerrettich aus regionalem Anbau verwendet wurde.
Leider hat es die alte Landsorte auf die bundesweite Rote Liste bedrohter Kulturpflanzen geschafft. „Im Biosphärenreservat Spreewald sollte es eine Ehrensache sein, diese Pflanze weiterhin zu erhalten. Der Auftrag der Unesco, solche Genreserven zu schützen und wirtschaftlich tragfähige Konzepte zu entwickeln, wird in kleinen Schritten verwirklicht“, sagt Petschick.
Dirk Richter baut die alte Sorte bereits auf 0,6 Hektar an und plant fürs nächste Jahr einen knappen Hektar: „Ich will den Anbau voranreiben, das ist mein Ziel.“