Nationalpark Unteres Odertal: Vorhang auf für den Schwanenchor

Singschwäne auf der Oder
Reportage
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Sie haben in diesen Wintertagen wie in jedem Jahr ihren großen Auftritt im Unteren Odertal – die singenden Gäste aus Nord- und Osteuropa. Doch der einzige Brandenburger Nationalpark ist das ganze Jahr über eine anziehende Bühne der Natur mit vielen Hauptdarstellern.

Von Bärbel Arlt und Heidrun Lange

Der Nationalpark Unteres Odertal im Nordosten Brandenburgs ist in diesen Wochen die Bühne der Singschwäne. Doch auf den großen Applaus müssen die weißen, eleganten und sangesfreudigen Hauptdarsteller in diesem Winter verzichten. Denn die Besucherströme bleiben aufgrund von Corona aus. Auch die für das kommende Wochenende 29. bis 31. Januar geplanten 14. Singschwantage finden nicht statt. „Mit der Entscheidung, sie abzusagen, haben wir es uns nicht leicht gemacht“, bedauert Nationalparkleiter Dirk Treichel, der uns am Telefon erzählt, dass er den Gesang der singenden nordischen Wintergäste sogar in seinem Büro im Nationalparkzentrum in Criewen hören kann.

Zeit für eine Auszeit

Corona hat unser Leben stark eingeschränkt. Selbst kurze Ausflüge sind schwierig geworden. Trotzdem möchten wir Ihnen Lust auf interessante Ziele von Kap Arkona bis zum Fichtelberg machen. Denn irgendwann werden wir sie wieder entdecken können bzw. dürfen – und Vorfreude tut gut.

Und so sind wir voller Vorfreude ins Untere Odertal gefahren und hatten auf einen großen Auftritt des Schwanenchores gehofft. Gemeinsam mit der jungen Rangerin Milena Kreiling begeben wir uns auf Schwansafari durch die überflutete Polderlandschaft. Doch die Hauptakteure scheinen (fast) komplett ausgeflogen zu sein. Die 29-Jährige zuckt mit den Schultern. Erklären kann sie sich das nicht wirklich, denn auch auf den umliegenden Feldern, wo sich die Schwäne gern mal aufhalten, sind sie nicht. Erst vor zwei Tagen, als sie mit zwei Kollegen im Nationalpark ein Video gedreht hat, das als Alternative zu den Schwanentagen auf der Homepage des Nationalparks zu sehen sein wird, habe sie hunderte gefiederte Chormitglieder vor der Kamera gehabt. „Die Vögel nehmen Hoch- und Tiefdruckgebiete wahr und weil eine Kaltfront auf uns zusteuert, sind sie vielleicht noch weiter in den Südwesten geflogen“, vermutet sie.

Sommerurlaub in der Südsee

Doch wir geben die Hoffnung nicht auf und lauschen den Erzählungen der Rangerin, die in Stuttgart aufgewachsen ist, in Freiburg und Karlsruhe Waldwirtschaft, Biodiversität und Umweltbildung studiert hat und seit zwei Jahren Mitarbeiterin der Naturwacht Brandenburg in Criewen ist. Mitte November, so sagt sie, kommen die ersten Singschwäne in Familienverbänden, um hier zu überwintern, denn auf den überfluteten Auenwiesen finden sie reichlich Nahrung. „Für die Vögel ist das Untere Odertal sozusagen die Südsee, hier verbringen sie ihren Sommerurlaub“, meint sie etwas scherzhaft. Die meisten Schwäne kommen aus Lettland, wie Ornithologen anhand von Studien und Beringungen herausgefunden haben. Dabei wurde in den vergangenen Jahren aber wiederholt auch ein besonderer Weitflieger entdeckt – ein Schwan, der sein Brutgebiet mehr als 7.000 Kilometer entfernt in den Moorgebieten Sibiriens östlich des Ural hat.

Das besondere Schwanenballett gibt es ab Mitte Januar, wenn die Zeit der Balz gekommen ist. Die majestätischen Vögel schlagen dann ihre mächtigen Schwingen gegen den Wind, recken den markanten gelben Schnabel in die Höhe und sind besonders gesangsfreudig. Sie rufen mal trompetenartig aufbrausend, dann wieder melancholisch sanft, einem Glockenschlag ähnlich. „Immer wieder ein sehr eindrucksvolles Naturschauspiel“, schwärmt Milena Kreiling, die Singschwäne auch schon in Island und Finnland, wo der majestätische Vogel sogar den Euro ziert, erlebt hat, und die sich beruflich sehr gern für Brandenburgs Nationalpark entschieden hat. Seine Vielfalt und seine Dynamik seien immer wieder faszinierend und es gebe noch viel Potenzial, ihn zu entwickeln. Dabei schwirren ihr auch künstlerische Aspekte durch den Kopf.

Auftritte von Silberreiher bis Seeadler

Singschwäne, so heißt es, bleiben sich ein Leben lang treu. Das ist auch bei den Höckerschwänen, die im Nationalpark ganzjährig und reichlich anzutreffen sind, nicht anders. Doch worin unterscheiden sie sich? Milena Kreiling braucht manchmal noch nicht mal ein Fernglas, um die beiden Schwanarten auseinanderzuhalten. „Der Singschwan schmückt sich mit einem gelb-schwarzen Schnabel, außerdem hat er einen geraden Hals. Der Höckerschwan wiederum hat einen orangeschwarzen Schnabel mit einem Höcker. Auch im Flug gibt es Unterschiede. Der Höckerschwan knurrt und zischt, der Singschwan fliegt lautlos. Das heißt, man hört keinen Flügelschlag. Auch ist er kleiner.“ Und während sie uns die Unterschiede erklärt, schaut uns plötzlich am Wegesrand ein Fuchs tief in die Augen. Auf uns war er wohl nicht vorbereitet. Doch als er merkt, dass wir keine Gefahr sind, streift er auf der Suche nach Mäusen seelenruhig weiter.

Enten
zwei Gänsesäger-Männchen.
Der Beobachtungsturm „Fliegender Kranich“ steht fast direkt an der Oder.
Der Beobachtungsturm „Fliegender Kranich“ steht fast direkt an der Oder.
Ein Seeadler hat Nahrung erspäht. 

Auch wir streifen weiter durch den Nationalpark auf der Suche nach den Singschwänen – und sehen reichlich Gänse und Stockenten, Gänsesäger und Zwergsäger, aber auch Limikolen (langbeinige Watvögel) und sogar einen Seeadler und auch etliche Silberreiher, deren Population zunimmt, während die der Graureiher abnimmt, so die Rangerin, die im Nationalpark vor allem auch für Umweltbildung zuständig ist.

Der 10.400 Hektar große Nationalpark entlang der Oder zwischen Hohensaaten im Süden und Stettin (Szczecin) im Norden ist der einzige in Brandenburg und deutschlandweit eines der größten Überwinterungsgebiete für Singschwäne. Bis zu 2.000 wurden hier schon gezählt. Doch die Zahlen schwanken. So kamen aufgrund des milden Winters 2019/2020 nur rund 250. In diesem Jahr, schätzt Milena Kreiling, waren es in Spitzenzeiten bereits um die 500. Uns trösten diese Zahlen wenig, hatten wir doch auf ein großes Konzert des Schwanenchores gehofft. Aber wir wollen uns nicht beklagen. Denn wir haben viele andere wundervolle tierische Auftritte und eine traumhafte Naturlandschaft erlebt – und zum Abschied dann doch noch ein kleines Konzert, denn eine vierköpfige Schwanenfamilie flog singend über unsere Köpfe. Die Hoffnung stirbt eben bekanntlich zuletzt. Und kaum waren wir wieder in Richtung Berlin verschwunden, tauchten die Sänger wieder zu Hunderten auf, wie uns Nationalparkleiter Dirk Treichel berichtet und schwärmt: „Und in den vergangenen Tagen hatte ich wieder kostenlose Konzerte direkt vor dem Büro.“

Jede Jahreszeit hat ihren besonderen Reiz

Der Nationalpark hat aber nicht nur im Winter seinen Reiz. Es lohnt sich zu jeder Jahreszeit, das Untere Odertal mit seiner vielfältigen Pflanzen- und Tierwelt zu entdecken. So leben hier auch Fischotter, Trauerseeschwalbe, Rohrdommel und sogar der seltene Wachtelkönig. Zwischen Mitte Juli und November ist die wilde Auenlandschaft des Oderdeltas in Begleitung zertifizierter Führer auch hautnah mit dem Kanu erlebbar.

In den vergangenen Jahre wurden im Nationalpark 284 Vogelarten beobachtet.
In den vergangenen Jahre wurden im Nationalpark 284 Vogelarten beobachtet.

Im Nationalpark sind bisher rund 280 Vogelarten beobachtet worden, 161 brüten hier. See- und Fischadler ziehen ihre Jungen auf, ebenso Kraniche, Weiß- und Schwarzstörche. Bei günstigen Überflutungsverhältnissen brüten auch östliche Vogelarten wie Weißflügel- und Weißbartseeschwalben oder Zwergmöwen.

Naturführerin Frauke Bennett kennt die verwirrenden Wege auf dem Wasser. Ihre Tour beginnt am Mescheriner See, einem Altarm der Oder. Während sie das Paddel ins Wasser steckt, erzählt sie von früher, als die Bauern ihre Kähne steuerten, um auf den Auenwiesen Futter fürs Vieh zu holen. Sie steuert an einem Teppich aus Seerosen vorbei. Durch ein Deichtor geht es auf die polnische Seite. Dort hat die wilde Natur seit Jahrzehnten Besitz von der Auenlandschaft ergriffen. Die Oder durfte sich sorglos ausbreiten und Landschaften formen. Von Minute zu Minute verästelt sich der Fluss in immer kleinere Arme. Meterhoch ragen Röhricht und Schilf empor. Der Ruf des Eisvogels ist zu hören. Zu sehen ist er jedoch nicht, nur das blaue Gefieder blitzt manchmal durch das Schilf. Und am Ufer hat ein Biber seine Burg gebaut, fast acht Meter breit und vier Meter hoch. Als würde Frauke ein Biologiebuch aufschlagen, weiß sie zu jeder Pflanze und jedem Tier Geschichten zu erzählen. Mal fischt sie eine Spitzschlammschnecke aus dem Wasser, dann zeigt sie auf eine trichterförmig angeordnete Pflanzengruppe, die sie als Krebsschere vorstellt und die als Unterwasserpflanze ein Leben im Geheimen führt und nur in den Sommermonaten an die Wasseroberfläche steigt und ein natürlicher Wasserfilter ist. Ihre kräftigen Blätter bieten Insektenlarven, Wasserkäfern oder Egeln Schutz vor Fressfeinden. Und sie zeigt auf eine Stelle, wo das hohe, vertrocknete Schilf umgeknickt ist. „Das ist die wichtigste Pflanze hier“, erklärt Frauke. „Es nimmt sich Nährstoffe aus dem Wasser und reinigt es dabei.“

Der Herbst gehört dann im Nationalpark den liebenstollen Hirschen, deren Röhren weithin zu hören ist. Auch Tausende Enten, Gänse und Kraniche legen auf dem Weg nach Süden eine Rast ein. Und im Winter sind im Nationalpark Unteres Odertal dann wieder die Sänger mit dem gelbschwarzen Schnabel die Hauptdarsteller auf der Bühne der Natur.

Fotos: Heidrun Lange (3); Milena Kreiling / Naturwacht Brandenburg; Thomas Uhlemann (9)


www.nationalpark-unteres-odertal.eu