Osterglocken: Die goldene Meile
Großbritannien produziert 90 Prozent aller Narzissen, die weltweit in die Vasen kommen, auch in Deutschland. Über 70 Prozent davon wachsen in der Grafschaft Cornwall. Von dort aus nahm vor über 100 Jahren der globale Siegeszug der Osterglocken seinen Anfang.
Von Petra Jacob
Cornwall – es ist eine Sinfonie in Gelb, die mich dort empfängt, und sie macht im ersten Moment dem Rosamunde-Pilcher-Klischee alle Ehre. Bis zum Horizont blühen die Narzissen und ihr Gelb wetteifert mit dem Blau des Himmels. Denn in diesem südwestlichsten Landesteil von England, einer Landzunge, die in den Atlantik ragt, hält der Frühling viel früher Einzug als im übrigen Großbritannien – es ist das „Osterglockenland“.
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Blumengrüße aus der Hutschachtel
Alles begann im späten 19. Jahrhundert auf den 45 km der Küste vorgelagerten Scilly-Inseln, als Kartoffelbauer William Trevellick 1875 die Idee kam, die vielen auf seinem Land wild wachsenden Narzissen in eine Hutschachtel zu verpacken und nach London zu schicken. Per Frachter zuerst nach Penzance, von dort mit der Eisenbahn waren sie binnen 48 Stunden am Ziel. Landbesitzer Thomas Dorrien-Smith war der Nächste, er hielt seine Pachtbauern an, auch frühere Sorten zu züchten. 1889 werden dann schon 198 Tonnen Blumen aufs Festland verschickt.
Landwirt Andrew Lawry, unweit von Penzance in Varfell, schnappt 1885 die Idee auf. Varfell ist nur ein Weiler aus wenigen Häusern und hat heute mit Varfell Farms die größte Narzissenproduktion der Welt. Jedes Jahr werden eine halbe Milliarde der Frühjahrsblüher geerntet und in die EU, nach den USA und Dubai exportiert. Die vielen im Frühjahr goldgelb blühenden Felder verleihen der Gegend einen ganz besonderen Reiz – und man spricht von der „goldenen Meile“.
„Blumen verrotten in den Feldern“, hieß es in der britischen Presse im Februar, weil die Arbeitskräfte wegblieben. Statt der 750 Beschäftigten, die in der Hochsaison zwischen Dezember und April für das Ernten der Narzissen auf Varfell Farms gebraucht werden, waren nur 400 verfügbar. Neben den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie war auch der Brexit und somit das Ende der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit Schuld daran, so Alex Newey, Chef von Varfell Farms. Doch Cornwall Council gestattete Ende Februar das Aufstellen von 49 Wohnwagen auf dem Firmengelände für die Unterbringung der überwiegend osteuropäischer Saisonarbeitskräfte. Einen Wohnwagen teilen sich sechs Personen. Jeder zahlt pro Woche £ 57,40 (67,20 Euro). Bettwäsche und Küchenausstattung muss man selbst mitbringen.
Gearbeitet wird an sechs Tagen in der Woche, insgesamt 48 Stunden und mehr – mit einem Stundenlohn von mindestens 8.72 £ (10,20 Euro). Mehr ist drin, je nachdem, wie schnell man schneidet. „Bei uns verdienen die besten Ernter zu Spitzenzeiten um die 900 £ (1.053 Euro) die Woche“, so Frances Hosking von der Fentongollan Farm. Bezahlt wird nach Akkord, aber nie unter dem vorgeschriebenen Mindestlohn.
Für zehn Narzissen pro Strauß bekommt der Ernter zwischen neun und elf Pence. „Manche schaffen bis zu 1.600 Sträuße am Tag, einfach erstaunlich“, so die 22-Jährige, die ihr Agrarstudium abgeschlossen hat und sich jetzt in das Narzissen-Geschäft ihres Vaters James einarbeitet. Der Hof von Familie Hosking, den es bereits seit 1883 gibt, liegt abgelegen in wunderschöner Landschaft, die sehr hügelig ist und zum Mündungsgebiet des Flusses Fal einige Kilometer südöstlich des Städtchens Truro gehört.
Brexit bringt weniger Saisonarbeitskräfte
Zur Fentongollan Farm gehören rund 81 ha mit 400 verschiedenen Sorten Narzissen, 809 ha Ackerland mit Braugerste als einen Teil der Fruchtfolge. „Das ist die nur in Großbritannien angebaute alte Gerstensorte Maris Otter. Aus der wird im benachbarten St. Austell ein traditionelles English Bitter gebraut.“ Die steilsten und unwirtlichsten Flächen gehören den 600 Schafen, die in diesen Tagen 450 Lämmer zur Welt brachten, wie Frances erzählt. Außerdem produziert Fentongollan Farm 80 Prozent aller Gemüsesetzlinge, die im Südwesten Englands für den Anbau gebraucht werden, darunter Blumenkohl, Brokkoli, aber auch verschiedene Salate oder Gurken.
Auf dem Quad braust die junge Frau dann voraus auf ein Feld mit besonders schöner Aussicht auf die vom Narzissenanbau geprägte Landschaft. Hier arbeitet der 31-Jährige Ivaylo aus Bulgarien, flink schneidet er die Stängel und schichtet sie in Plastikkisten. Fentongollan Farm arbeitet mit einem festen zehnköpfigen Ernteteam aus Bulgarien und Litauen, das seit Jahren auf den Hof kommt. Frances hofft, dass sie trotz Brexit auch im nächsten Jahr wieder einreisen dürfen. Zusätzliche Arbeitskräfte kommen über eine Agentur.
Zu Spitzenzeiten – wie vor Muttertag, in England immer am zweiten Märzsonntag – werden bis zu 100 Pflücker am Tag gebraucht. In diesem Jahr konnte die Agentur öfter die geforderte Menge an Arbeitskräften nicht schicken und von einigen Feldern konnte gar nicht geerntet werden. Doch Frances ist keine, die sich beschwert. Sie denkt an all jene, die in den letzten Monaten ihr Geschäft aufgeben mussten. „Viele hatten es viel schlimmer“, sagt sie.
Vier Jahre wachsen Narzissen an einem Ort. Zwischen Januar und April werden sie als Schnittblumen geerntet. Erst nach dem vierten Jahr ab Ende Juli werden die Blumenzwiebeln ausgehoben, getrocknet und sortiert. Ein Teil wird später wieder in den Boden gepflanzt, der andere wird an den Großhandel, Privatkunden, Kirchen, über den eigenen WebShop und im Hofladen verkauft. Auch beliefern sie einen großen Player im cornischen Narzissen Geschäft mit 1.011 ha Anbaufläche. „Die großen Anbauer haben oft nicht so viele Sorten Narzissen im Programm und kaufen dann von uns.“
In der EU kooperiert Fentongollan Farm mit der niederländischen Firma Van der Plas. Einen treuen Einkäufer von Narzissen-Sträußen gibt es auch in den USA, so Frances. „Unsere Blumen sind mit Etikett versehen, darauf steht, woher sie kommen.“ Und so erhält sie regelmäßig Dankesschreiben von Menschen, denen die Blumen große Freude bereiten.
Durch Corona habe sich der Internetverkauf verdoppelt, vielleicht sogar verdreifacht, so die Landwirtin. „Weil sich die Menschen nicht besuchen konnten, schickt man sich Blumen als nette Geste.“ Sie selbst hat Narzissen-Sträuße an Pflegeheime in der Umgebung verschenkt. „Viele hatten so eine schwierige Zeit, konnten ihre Familien nicht sehen. Erstaunlich, was diese kleine Geste für manch einen bedeutete.“
2.500 Sorten auf vier Hektar
Wenn es um die Sortenauswahl bei Blumenzwiebeln geht, reicht keiner Ron und Adrian Scamp aus Maenporth in der Nähe von Falmouth das Wasser. An die 2.500 verschiedene Narzissen wachsen auf einer Fläche von vier Hektar – darunter alte Sorten – die älteste stammt aus dem 17. Jahrhundert – aber auch moderne sowie von Ron Scamp über die Jahre zusammengetragene oder selbst gezüchtete. Es dauert übrigens 15 Jahre, bis eine neue Sorte entsteht, wie er sagt.
Der heute 78-Jährige entdeckte bereits als Junge seine Leidenschaft für die Narzissen. Kommerziell begann er vor 31 Jahren, Sohn Adrian stieg 2007 mit ein. So ist das Geschäft für das Vater-Sohn-Team eine Herzensangelegenheit. Rons gezüchtete Sorten wachsen inzwischen auf der ganzen Welt – in Australien, Argentinien, Russland, Japan, Indien.
„Vor dem Brexit haben wir auch nach Europa verkauft, doch das ist leider nicht mehr rentabel“, bedauert Sohn Adrian, der sich um die geschäftliche Seite kümmert. „Auch wenn es nur fünf Prozent unserer Bestellungen waren. Wir sind ein kleines Familienunternehmen und es wirkt sich schon sehr auf unser Geschäft aus.“ Verkauft haben die Scamps an Liebhaber, Hobbygärtner. „Wir sind über die Jahre Freunde geworden. Jetzt nach 30 Jahren sagen zu müssen, wir können euch nicht mehr beliefern, das ist schon enttäuschend.“
Sie überdauern jedes Menschenleben
Es sind aber nicht nur die Kosten für den Versand immens gestiegen, es sind wegen des Brexits auch andere Regelungen gekommen. „Früher gab es einen Pflanzenpass, heute braucht es zwei. Die meisten Kunden kaufen kleine Mengen, drei von der Sorte, fünf von einer anderen“, so Adrian Scamp. „Selbst, wenn ich jetzt nur drei Blumenzwiebeln nach Deutschland schicken würde, kann der Versand um die 40 £ kosten.“ Seit dem Brexit ist ein Pflanzengesundheitszeugnis vorgeschrieben, das kostet um die 25 £, egal ob es drei Blumenzwiebeln sind oder eine Palette.
„Um das Zertifikat zu bekommen, braucht es einen Inspektor, der die Ware überprüft, das sind noch mal über 120 £. Auch wenn ein Kunde die Kosten übernehmen wollte, der Aufwand ist mit umgerechnet über 200 Euro immens.“ Besonders wurmt ihn, dass er aufgrund der Brexit-Verhandlungen auch nicht mehr nach Nordirland liefern kann, denn für Lieferungen dorthin gelten nun ebenfalls die EU-Vorschriften.
Adrian Scamp verbringt jetzt sehr viel Zeit am Computer, er verschickt E-Mails, macht Podcasts. Er ist froh, dass er sich über die Jahre einen treuen Kundenstamm aufgebaut hat. „Eigentlich würden wir jetzt im Frühjahr mit unseren Blumen auf Ausstellungen und Shows vertreten sein.“ Doch sie sind wie im Vorjahr alle abgesagt. Dort haben sie über die Jahre viele prestigeträchtige Preise geholt, darunter viele Goldmedaillen. „Auch wenn es im Moment etwas schwierig ist, wir sind froh, dass wir überhaupt noch da sind“, so Adrian. Und für Vater Ron ist es ein schönes Gefühl, die eigenen Osterglocken auf der ganzen Welt wachsen zu wissen. Denn einmal eingepflanzt, vermehren sich Narzissen von selbst durch Tochterzwiebeln. „Und wenn keine Krankheiten dazwischen kommen, dann überdauern sie jedes Menschenleben.“