Tiertherapie: Landwirtschaft als Suchttherapie
Der Verein Sinalkol betreibt im havelländischen Kieck (Brandenburg) eine Einrichtung für alkoholkranke Menschen, die sich dort in die Arbeit des zertifizierten landwirtschaftlichen Biobetriebes einbringen können.
Von Silvia Passow
Kieck, der winzige Ort rund 20 Kilometer nördlich der Havelstadt Brandenburg, ist über die Landstraße 99 gut erreichbar, aber dennoch, eingebettet in Wälder und Wiesen, abgelegen – und damit optimal für Menschen, die sich von einer Krankheit erholen wollen.
Der idyllische Flecken wurde nach der Wende vom Verein Sinalkol gepachtet, der hier ein Zentrum für Suchtkranke unterhält und damit Therapie mit viel frischer Luft möglich macht, weitab der großen Städte und ihren vielen Versuchungen. 45 Therapieplätze gibt es.
Domstift Kieck war schon immer landwirtschaftlich geprägt. Die Arbeit auf dem Feld und mit Tieren passt nicht nur in die Gegend, sie hilft auch den Bewohnern auf Zeit. In der Landwirtschaft erlernen die Suchtkranken die Übernahme von Verantwortung. Thorsten Michalek ist Suchttherapeut und Geschäftsführer in Kieck. Für ihn steht nicht so sehr der Ertrag des Hofes im Vordergrund, sondern die Erfüllung hoher Biostandards.
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Kieck – ein Glücksfall
Katja Hallman ist Landwirtin und seit 2016 in Kieck beschäftigt. Zusammen mit einer Kollegin und einem Mitarbeiter ist sie für den landwirtschaftlichen Betrieb in Kieck zuständig. Auf 58 Hektar wird Ackerbau betrieben, Roggen, Hafer, Triticale und Luzerne werden als Tierfutter angebaut.
Daneben gibt es Felder mit Kartoffeln, Spargel, Erdbeeren, Kürbis, Salat, Kohl, Kräutern, Rote Bete. Im Gewächshaus reifen Gurken und Tomaten. Auf den 38 Hektar Dauergrünland stehen Sommer wie Winter 34 Rinder und Bulle Rudi, treu sorgender Familienvater, der seine Herde, zu der im Moment auch 28 Kälber gehören, gut im Auge behält. „Rudi ist ein sehr fürsorglicher Vater“, sagt Katja Hallmann, die bei einem Besuch auf der Weide den stattlichen Bullen stets im Auge behält.
Sie sucht die Weide nach Lilly und Billy ab, zwei Kälber, die sie mit der Flasche aufgezogen hat. Nahe der neuen Futterstelle entdeckt sie Lilly. Die Weide mit den Kühen ist ihr Lieblingsort auf Kieck sagt die 36-Jährige. Für sie ist Kieck ein Glücksfall, denn anders als die früheren Studienkollegen, kommt sie aus keiner landwirtschaftlich geprägten Familie.
Ein Schweineleben an der frischen luft
Ohne Stall kommen auch die zwei Sauen, 13 Ferkel und 26 Mastschweine aus. Die Tiere leben in Freilandhaltung, ihre Unterstände können sie nach Lust und Laune selbst aufsuchen. Das könnte wegen der Afrikanischen Schweinepest zum Problem werden. Zaun und Desinfektionsmittel sollen die Seuche von den Tieren fernhalten. „Noch sind die Einschläge entfernt“, heißt es aus Kieck. Thorsten Michalek ist dennoch vorbereitet, hat Hallenzelte bestellt. Die Amtstierärztin hält diese Zelte für eine Möglichkeit, sagt er. Die Enten und Gänse müssen ohnehin bald dran glauben, hier hofft man, dass die Geflügelpest einen Bogen um Kieck schlägt.
Auch sonst läuft einiges anders als im konventionellen Betrieb. Da sind zum Beispiel Piggeldy und Frederick. Sie galten als mickrige Schweine, und der Züchter wollte sie deshalb merzen, berichtet Michalek. Er nahm die kleinen Ferkel mit nach Kieck und inzwischen ist nichts mehr mit zu klein. Um die 120 Kilogramm bringen sie jetzt auf die Waage. Sie werden nun irgendwann geschlachtet, vorher hatten sie ein echtes Schweineleben an der frischen Luft.
Hofschlachtung scheitert an Vorgaben
Auch die 13 Ferkel, die Mitte Juli geboren wurden, haben nicht alle den gleichen Entwicklungsstand. Es sind propere Ferkel dabei und sehr zarte Ferkelchen. Eingegriffen wird nicht. „Was wird, das wird“, sagt Hallmann. Es braucht dann eben etwas länger bis die Tiere Schlachtreife haben. Wenn es so weit ist, verlassen sie Kieck zum ersten Mal. „Das geht stressfrei“, sagt Michalek. „Die kennen ja nichts Böses. Man hält ihnen etwas Grünzeug vor die Nase und sie folgen bis auf den Hänger“, beschreibt er die letzte Tour.
Bis zum Schlachter ist es nicht allzu weit, sagt Michalek. Allerdings sei es immer schwieriger, Schlachthäuser für Tiere nach Biostandard zu finden. Eine mobile Lösung, die Hofschlachtung, wäre für ihn durchaus wünschenswert, doch sind die Vorgaben für den kleinen Betrieb nicht zu erfüllen. Was in Süddeutschland gut funktioniert, ist in weiten Teilen Brandenburgs an unzähligen Vorgaben gekoppelt, bedauert Michalek. Bis es soweit ist, werden die Borstentiere ausgiebig verwöhnt.
Herausforderungen durch Biostandard
15 der derzeitigen Bewohner aus der Suchttherapie bei Sinalkol sind in der Landwirtschaft tätig. Sie bauen Zäune, helfen beim Füttern, und verteilen zwischendrin reichlich Streicheleinheiten. Auch Landwirtin Hallmann krault hier und da hinter den rosa Öhrchen. Ein Stück weiter verrät das Gackern und Quaken die Anwesenheit von reichlich Federvieh. Hühner, deren Eier verkauft werden, 210 Enten und nebenan tummeln sich 120 Gänse. Alle mit eigenem Gelände inklusive Poollandschaft. Bis kurz vor Weihachten können sie den Rundum-Service genießen, dann enden auch sie als Weihnachtsbraten.
Auch hier hält der Biostandard wieder Herausforderungen bereit. Die Transportwege sind ein Problem, sagt Hallmann, ebenso wie die Beschaffung von Bioküken. Die kamen zuletzt aus Bayern, sagt sie. Doch für Michalek käme nur die Biolandwirtschaft infrage, sagt er. „Ich möchte, dass die Leute, wenn sie zu uns auf den Hof kommen, über die Produktion der Lebensmittel nachdenken.“
Der Kartoffelroder von 1984: reine Chefsache
Auf dem Hof von Sinalkol geht es aber nicht nur um Fleisch. Auch Kartoffeln werden angebaut. Für die Ernte kommt ein Kartoffelroder von 1984 zum Einsatz: Er wurde im vergangenen Jahr angeschafft, ist Thorsten Michaleks Lieblingsstück und sein „Betrieb somit reine Chefsache“, sagt er.
Grund dafür ist aber auch das Förderband, das nicht nur Kartoffeln befördern, sondern auch die Finger unaufmerksamer Erntehelfer verletzen kann. Hier opfert der Chef sich also selbst und Katja Hallmann hat nichts dagegen. „Das Band läuft so schnell. Da wird man glatt seekrank“, sagt sie. Bevor die Technik einzog, war die Kartoffelernte eine große Gemeinschaftsaktion.
Rechts: Auch Federvieh gibt es reichlich auf dem Domstift Kieck. Doch ihre Tage sind gezählt, landen sie doch als Weihnachtsbraten auf dem Festtagstisch.
(c) Silvia Passow
Sinalkol: Produkte werden regional vermarktet
Die Arbeit in der Landwirtschaft ist für die suchtkranken Bewohner von Sinalkol keine Pflicht, sondern Kür. Neben der Arbeit auf den Feldern bieten auch Tischlerei und Kfz-Werkstatt sinnvolle Beschäftigungen an. Ohne die Hilfe aus der Therapie würde der Betrieb nicht funktionieren, sagt Hallmann. Sei es Pflege wie Unkrautjäten oder Unterstützung bei der Ernte. „Beim Aufessen sind dann wieder alle gern dabei“, sagt Michalek lachend. Dazu trifft man sich im Café der Einrichtung. Zum Hofcafé gehört auch eine Terrasse direkt am Teich. Hier lässt es sich gut munden.
Im Hofladen können viele Produkte des Domstifts gekauft werden. Besonders zur Spargelzeit kommen viele Brandenburger nach Kieck, und bei manchen Berlinern gilt der abgelegene Ort als Geheimtipp für das Königsgemüse. Die Kälber werden über Bio-Park vermarktet. Auch in den Geschäften der Bio-Insel in Rathenow und Brandenburg/Havel sind Kieck-Produkte erhältlich. Und im Restaurant „Am Humboldthain“ in der Havelstadt Brandenburg landen auch Kieck-Produkte wie Kürbis auf den Tellern. Die Rote Bete gehen an eine Mosterei in Ketzür.
Schwarze null im Visier
Dennoch, verdienen lässt sich mit dieser Form der Landwirtschaft nicht viel, sagt Michalek. Denn immer wieder müssen auch Investitionen in den landwirtschaftlichen Betrieb getätigt werden. So habe man beispielsweise kürzlich einen wolfssicheren Zaun um die Rinderkoppel gezogen. „Der sollte eigentlich zu 100 Prozent gefördert werden. Am Ende lag die Förderung bei 80 Prozent. Doch sicher ist sicher.“ Einen Wolf gesichtet hat man hier noch nicht, wohl aber gehört und Fährten von ihm gesehen. Und dann ist da noch die ASP. „Wenn die nicht reinhaut, könnte es noch was werden, mit der schwarzen Null“, ist Michalek optimistisch.