Weder Fisch noch Fleisch?
Das Rodachtal im Süden Thüringens verbindet: Hier arbeiten Kommunen mit den bayerischen Nachbarn Hand in Hand, und vieles wurde bewegt, um Landesgrenzen verschwinden zu lassen und die Region zu entwickeln.
Von Birgitt Schunk (Text und Fotos)
„Die Leute kommen und verlieben sich“, sagt Martina Rohner. Immer wieder stehen Gäste vor ihrem Schreibtisch in Ummerstadt am Markt 33. In dem Fachwerkhaus befindet sich die Geschäftsstelle der Initiative Rodachtal – eines thüringischbayerischen Verbundes von Städten und Dörfern. Weil wegen Corona viele Auslandreisen ins Wasser fielen, waren in diesem Jahr weit mehr Menschen deutschlandweit unterwegs. Das hat ins Tal der Rodach einige Touristen mehr gebracht, die sonst vielleicht nicht gekommen wären. „Viele sind erstmals hier, finden es wunderschön, und es gibt vermehrt Anfragen von Städtern, die sich für Häuser und Grundstücke interessieren“, erzählt die Leiterin der Geschäftsstelle, die auf Thüringer Seite ihren Sitz hat.
Gemeinsamer Entwicklungsraum
Seit 2001 arbeiten Kommunen aus Thüringen und Bayern eng zusammen. Das gleiche Schicksal hat sie zusammengeschmiedet. „Im Grunde ist die Region aus dem Blickwinkel von außen weder Fisch noch Fleisch“, sagt Martin Finzel, Bürgermeister der Gemeinde Ahorn vor den Toren der Stadt Coburg. Aus Sicht der bayerischen Landeshauptstadt seien die hiesigen Dörfer auf fränkischer Seite weit weg, für die Thüringer Orte gleich nebenan sei es mit Erfurt nicht anders. Der Gefahr, zu wenig beachtet zu werden, wollte man deshalb etwas entgegensetzen. „Hendrik Dressel, der frühere Bürgermeister von Seßlach, schob damals diese Initiative an. Schließlich gab es beispielsweise vielerorts nach Jahren der offenen Grenzen nach wie vor nicht mal einen Wegweiser von einem Dorf in Bayern zum Nachbarort in Thüringen“, erzählt Finzel. Der Eiserne Vorhang wirkte also noch lange nach.
„Es war irgendwie an der Zeit, dass sich hier ohne Landesgrenzen etwas bewegt und man sich gemeinsam strategisch entwickelt.“ Der Verein Initiative Rodachtal wurde gegründet – Finzel hat heute mit seiner Amtskollegin Christine Bardin aus dem südthüringischen Ummerstadt den Vorsitz. Gemeinsam bringt man inzwischen ein Gewicht von 52.000 Einwohnern in die Waagschale. Und das hat einige Türen geöffnet. „Als gemeinsamer Lebens- und Entwicklungsraum ist das Rodachtal inzwischen von der bayrischen und der thüringischen Regionalplanung anerkannt“, sagt Finzel. Während Bayern die Netzwerkarbeit der Initiative direkt mit finanziere, werden aus Thüringen aktuell nur Projekte gefördert. Hier also spürt man noch die Landesgrenze und die Unterschiede. „Wir brauchen für unsere wichtige Netzwerkarbeit auch aus Thüringen eine verlässliche, dauerhafte Unterstützung – also eine feste Position im Haushalt – um die vielen Themenfelder, die der Region helfen, weiter bearbeiten zu können.“ Nur im Ehrenamt und „mal schnell nebenbei“ funktioniere dies nicht. Deshalb wurden die Fraktionen des Erfurter Landtages angeschrieben – mit der Bitte um eine feste Unterstützung. Finzel selbst war deshalb schon zu Gesprächen in Erfurt. Dass ein Bayer sich dort ins Zeug legt, hat manch Gegenüber schon verwundert. „Wir wollen etwas für die Region bewegen und können nicht in Ländergrenzen denken“, sagt der 42-Jährige, der einen Studienabschluss auf dem Gebiet der Regionalentwicklung in der Tasche hat. Einem Thema, mit dem er sich also bereits lange beschäftigt.
Positive Beispiele gibt es genug, die über die Initiative Rodachtal bislang angeschoben wurden. Ohne den Verbund würde möglicherweise auch heute noch der historische Fachwerkkomplex am Markt 33 in Ummerstadt leer stehen. So aber wurde das Gebäude saniert, erstrahlt in neuem Glanz und hat ein schlüssiges Nutzungskonzept – die Geschäftsstelle hat hier ihren Sitz und ist zudem Anlaufpunkt für die Gäste. Im Objekt befinden sich auch Ferienwohnungen für Radler oder Wanderer. Das Haus wird außerdem zum Baukompetenzzentrum entwickelt, das für alte Häuser mit Geschichte begeistern und die Scheu vorm Sanieren von denkmalgeschützten Objekten nehmen will. In einer Börse werden historische Baustoffe angeboten und auch Gesuche veröffentlicht. Es gibt zudem einen Arbeitskreis Historische Bausubstanz. „Wir wollen den Blick schärfen für diese wunderschöne Baukultur“, sagt Martina Rohner von der Geschäftsstelle. Sie erzählt von einem Kurs, der mit einer Fototour durch den Ort begann. Danach verewigten die Teilnehmer jenes Haus, welches ihnen am besten gefiel, mit der Technik der Kaltnadelradierung. Auch Lehmbauseminare gab es bereits. In diesem Jahr hat Corona allerdings zahlreichen Veranstaltungen einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Mit Baulotsen gegen Leerstand
Schon einige Jahre lang befasst sich die Initiative Rodachtal mit dem Leerstand in den einzelnen Orten. „30 bis 40 Prozent der leer stehenden Gebäude oder Baulücken konnten so seit 2013/14 wieder aktiviert werden“, sagt Philipp Ruhstorfer vom Regionalmanagement der Initiative Rodachtal. Von Wohnungen über ein Schmuckatelier bis hin zu Café, Gasthof oder auch Ferienunterkünften ist einiges entstanden. Einen Grund hierfür sieht er nicht nur in den jeweiligen kommunalen Förderprogrammen für die Ortskerne an sich. Sehr viele Bauwillige wurden über die Initiative an die Hand genommen, um all das nutzen zu können. Mitarbeiter der Kommunen arbeiten als Baulotsen, die beraten und selbst immer wieder geschult werden. Seit 2014 floss in die Mitgliedskommunen der Initiative insgesamt rund eine Million Euro an Fördermitteln für private Baumaßnahmen, die alle die Innenentwicklung der Orte stärkten. Die Zuschüsse sorgten dabei für einen Investitionsschub, der das Achtfache ausmacht. Um auf Baulücken oder leer stehende Objekte aufmerksam zu machen, hatte man beispielsweise sogar schon mal in einer Aktion Objekte und Flächen mit großen, roten Ballons markiert. „So wurden die Problematik und auch das Potenzial deutlich“, sagt Ruhstorfer. Bislang sei dies den Menschen oft so nicht bewusst gewesen. Kommunikation ist wichtig, um vorwärtszukommen. Mit den Eigentümern von Baulücken und Häusern, die leer stehen, ist die Initiative immer wieder im Gespräch. „Wir wollen niemandem etwas wegnehmen, aber wir fragen nach, welche Pläne die Besitzer haben, wo wir Unterstützung geben können“, so Regionalmanager Philipp Ruhstorfer.
Christopher Other, der Bürgermeister der Stadt Heldburg auf Thüringer Seite, will diese Angebote gerne in Anspruch nehmen. Seine Kommune hat auch drei größere Objekte in der Innenstadt, die derzeit ungenutzt sind. „Hier überlegen wir, ob wir ein Hotel oder dezentrale Ferienwohnungen einrichten könnten – vielleicht auch Eigentumswohnungen.“ Auf alle Fälle will er Leben in den Ortskern bringen und nicht zusehen, wie Gebäude verfallen und sich immer mehr zu Schrottimmobilien entwickeln. Und um gute Beispiele noch mehr als bislang unter die Leute zu bringen, hat die Initiative sogar einen Baukulturpreis ausgelobt, der seit 2016 alle zwei Jahre vergeben wird.
Großes Engagement für kleine Projekte
Doch es sind nicht nur die großen Vorhaben, die einiges kosten und das Rodachtal voranbringen sollen. Ganz gezielt wurde auch das Miteinander befördert – so beispielsweise durch die Aktion „5 für 500“. Viele Projekte wurden dabei unterstützt – Voraussetzung ist, dass fünf Personen sich jeweils fünf Stunden ehrenamtlich dafür ins Zeug legen. „Natürlich kann man mit 500 Euro kein Haus sanieren, aber viele kleine Dinge, die ebenso die Menschen freuen, sind machbar“, sagt Christopher Other, das Stadtoberhaupt von Heldburg. So wurde beispielsweise Sand für einen Spielplatz gekauft und verteilt, anderswo konnte im Pfarrgarten einiges schick gemacht werden. Weil dabei unterschiedliche Fördertöpfe in den Ländern angezapft wurden, war erst Thüringen an der Reihe. Unkompliziert gab es hier für 34 Kleinprojekte einen finanziellen Zuschuss, der den Bürgersinn beförderte. Aktuell werden nun Vorhaben auf der bayerischen Seite umgesetzt und dabei konnten sogar über 45 solcher Kleinstprojekte unterstützt werden. An guten Ideen mangelt es also nicht – vom Brauchtum über Natur oder Kultur bis zum Miteinander setzte die Aktion immenses Engagement frei.
Gerade Tradition und Brauchtum werden im Rodachtal großgeschrieben. Im Thüringisch-Fränkischen wird noch gebacken und gebraut wie zu Urgroßmutters Zeiten – und das nicht nur daheim, sondern gerne in Gemeinschaft. Das war auf Thüringer Seite auch zu DDR-Zeiten nie verschwunden. „Wir haben heute immer noch neun Brauhäuser“, erzählt Bürgermeister Christopher Other, zu dessen Stadt immerhin 14 Ortsteile gehören. Das kleinste Dorf ist Volksmannshauen mit gerade mal elf Einwohnern. Im gesamten Gebiet der kommunalen Allianz sind es sage und schreibe 49 Back- und 17 Brauhäuser, die teils in privatem, teils in kommunalem Besitz sind. Auch hier hat die Initiative sich dahintergeklemmt, den Bestand erfasst und die Sanierung mit unterstützt. Vor einigen Jahren wurde sogar mal ein Zwei-LänderSud in die Bierflasche gebracht. Beim Backen und Brauen geht es längst um mehr als Essen und Trinken. „Es ist ein großes Stück Identität, das wir bewahren wollen“, sagt Ahorns Bürgermeister Finzel. Die Tradition und der Genuss von hier sollen an die Heimatregion binden.
Immer wieder länderübergreifend im Gespräch im Rathaus: Martin Finzel (r.), Bürgermeister im bayerischen Ahorn, und Christopher Other, Bürgermeister von Heldburg. Das Brauhaus von Bad Colberg – vielerorts in der Region lebt die Tradition des Bierbrauens.
In der Initiative Rodachtal arbeiten heute elf Kommunen zusammen – seit 2019 darunter auch die südthüringische Kreisstadt Hildburghausen und das wirtschaftlich starke Eisfeld, das nun territorial gesehen die Brücke bis hinauf an den Rennsteig schlägt. Dennoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Region im südlichen Zipfel Thüringens und im nördlichen Bayern durchweg ländlich geprägt ist – auch wenn einige Städte dem Bündnis angehören, die mit dem städtischen Leben nichts gemein haben. Heldburg selbst bringt es in seiner Kernstadt gerade mal auf 990 Einwohner. Und das beschauliche Ummerstadt mit seinem wunderschönen Fachwerk ist mit nicht
mal 500 Einwohnern Thüringens kleinste und Deutschlands zweitkleinste Stadt.
Dörfliche Idylle hat Potenzial
Viele Menschen wanderten zu DDR-Zeiten aus dem Grenzgebiet ab, später zog es junge Leute wegen des Jobangebots in den Westen. Unterm Strich blieb: Viel Fläche und wenig Einwohner also, die dennoch die komplette Infrastruktur wie Straßen, Wasser- und Abwasserleitungen, Strom und Internet brauchen. Das alles kostet immens viel Geld. Verkaufseinrichtungen, Praxen, Kindertagesstätten oder Gasthöfe zu erhalten, fällt nicht leicht – von Rad- und Wanderwegen erst gar nicht zu reden. Doch selbst in puncto Aktivsein hat sich einiges getan.
„Die Gäste loben diese Angebote und sind begeistert von der Baukultur“, sagt Martina Rohner von der Geschäftsstelle der Initiative Rodachtal. Mit dem neuen Deutschen Burgenmuseum auf der Veste Heldburg bekam die Region zudem ein besonderes Aushängeschild. Und so entwickelt sich in kleinen Schritten immer wieder Neues, das optimistisch stimmt. Wohl nicht umsonst gibt es im kleinen Ummerstadt drei Einkehrmöglichkeiten. Michael Stoll betreibt hier nicht nur ein Café sondern hat nun auch die Gaststätte im alten Rathaus wiedereröffnet – ausgerechnet in Coronazeiten natürlich kein leichtes Unterfangen. Auf bayerischer Seite geboren, war der gelernte Koch in Berlin und der Welt unterwegs. Die Liebe hat ihn nach Ummerstadt geführt. Hier will er bleiben und sich auch beruflich verwirklichen. Er sieht in der dörflichen Idylle viel Potenzial – und möchte „ehrliches Essen“ auf den Tisch bringen. Er kennt die Tiere, deren Fleisch er verarbeitet, der Pizzateig ist nicht aus der Gefriertruhe, sondern selbst gemacht. In seinem Café werden Semmeln, Kuchen und Torten frisch gebacken, erzählt er. Wanderern bringt er – wenn gewünscht – einen Picknickkorb ans Grüne Band, also an den Wanderweg entlang der einstigen innerdeutschen Grenze.
Hier kennt er idyllische Plätzchen. Ideen hat er viele, doch Corona hat den Start nicht gerade leicht gemacht. Nun stehen erst recht noch trostlose Wochen bevor, in denen Gäste weit weniger vorbeischauen werden als im Sommer. Durchhalten und an das eigene Konzept glauben, heißt jetzt aber die Devise. Der Küchenchef hofft auf die Vorweihnachtszeit und das neue Jahr – und ist überzeugt, dass die Region eine Zukunft hat. Zur Geschäftsstelle der Initiative Rodachtal ist es für ihn über den Marktplatz nur ein Katzensprung. Ein kurzer Weg, um ab und an mal anzuklopfen und auch eigene Vorschläge einzubringen. „Als Wirt muss man über die eigene Gaststube hinausdenken“, sagt Stoll.
Martina Rohner wirbt in der Geschäftsstelle der Initiative Rodachtal für die grenzübergreifende Region. Blick in die Vergangenheit: Ein Sichtfenster zeigt im historischen Gebäude eine alte bemalte Lehmwand.
Ein bisschen Grenze ist geblieben
Auch der Blick der Akteure der Initiative geht in die Zukunft. Am neuen Regionalen Entwicklungskonzept wird gearbeitet. „Wir müssen uns mit der Produktentwicklung hier vor der Haustür befassen“, sagt Martin Finzel. Gerade die Coronazeit habe Fragen aufgeworfen, ob alles um die halbe Welt gefahren werden müsse. Befassen will man sich auch mit Daseinsvorsorge, den Auswirkungen des Klimawandels auf die Kulturlandschaft und mit Mobilität. Dass eine neue Mobilfunkversorgung im bayerischen Seßlach nicht von München aus gefördert werden kann, weil sie zu sehr nach Thüringen ausstrahlt, hält Finzel nach fast zwanzig Jahren erfolgreicher Arbeit der Initiative für überholt. „Ein bisschen Grenze ist also bis heute geblieben“, sagt er. Selbst Heldburgs Bürgermeister Christopher Other denkt noch oft an die einstige Trennung – obwohl er sie gar nicht erlebt hat. 1990 geboren, kennt er das alles nur aus dem Erzählen und von Fotos. Wenn er von Thüringen nach Bayern fährt und wieder retour, dann ist das dennoch für ihn ein ganz besonderes Gefühl. „Dass die Grenze fiel, war ein großes Geschenk für die Menschen hier“, sagt er. Wie weit die einst getrennte Region aber doch schon wiederzusammen gerückt ist, merkt er immer wieder im Alltag. „Man sagt heute hier bei uns nicht mehr, dass jemand im Westen arbeitet – stattdessen heißt es, er fährt nach Coburg oder Bad Königshofen.“ Alles ziemlich normal inzwischen.
Fazendas da Esperanca: Chance auf einen Neustart
Techno-, Goa-, House-Party: Oft tanzen da auch Drogen mit. Das Spektrum der illegalen Aufputsch- und Betäubungsmittel in Deutschland wird auf rund 600 Produkte geschätzt. Die Fazendas da Esperanca, Höfe der Hoffnung, bieten Hilfe zum Ausstieg an. Gut Neuhof im brandenburgischen Markee ist eine der inzwischen sieben Einrichtungen hierzulande. mehr